Der Regen trommelte leise gegen die hohen Fenster des prunkvollen Ballsaals und dämpfte das Leuchten der Stadtlichter draußen. Drinnen hallte Lachen unter den Kronleuchtern breiter, vermischt mit dem Duft der Gäste, dem Geruch von poliertem Holz und dem Hauch von edlem Wein.
An einem Tisch in der Ecke saß Vivian Harper allein, ihre kleine
Hand umklammerte den Stiel eines Kristallglases. Sie war dreißig Jahre alt, alleinerziehende Mutter und zum dritten Mal in diesem Monat zu einer Hochzeit eingeladen, zu der sie keine Lust hatte.
Die Abwesenheit ihres Ex-Mannes hatte eine Leere in ihr hinterlassen, die sie hinter ihrem höflichen Lächeln zu verbergen gelernt hatte. Doch der Lärm um sie herum – die lauten Stimmen, das Geflüster, das stille Mitleid – verstärkte diese Leere nur noch.
„Sie kommt wieder allein“, murmelte eine Frau, ihre Stimme schwer vor Verurteilung.
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Vivian senkte den Blick, ihr Lächeln zerbrechlich, aber geübt. Paare wirbelten unter den Kronleuchtern, Champagnergläser funkelten im Licht. Einen Moment lang empfand sie sich unsichtbar – wie ein Geist, der durch die Feier schwebte.
Dann durchbrach eine tiefe Stimme die Umgebungsgeräusche.
— Tanz mit mir.
Überrascht blickte Vivian auf.
Da stand ein Mann – groß, tadellos gekleidet und mit einer Präsenz, die den Augenblick zu überstrahlen schien. Sein dunkler Anzug saß wie eine Rüstung an ihm; eine dünne Narbe verlief an seinem Kinn entlang. Doch es waren seine Augen – durchdringend, undurchdringlich, erfüllt von einer stillen Autorität –, die den Raum verstummen ließen.
„Ich… ich kenne Sie gar nicht“, stammelte sie.
„Perfekt“, erweitert er mit tiefer, magnetischer Stimme. „So wird niemand merken, dass du vorgibst, meine Frau zu sein.“
Bevor sie fragen konnte, was er damit meinte, streckte er ihr die Hand entgegen. Sie zögerte kurz, doch etwas in seinem Blick – etwas Entschlossenes, Gefährliches und seltsam Beruhigendes – zog sie in seinen Bann.
Ein leises Raunen ging durch den Raum, als Vivian sich von ihm auf die Tanzfläche führen ließ. Das Orchester spielte einen langsamen, trägen Walzer. Alle Blicke richten sich auf sie – die einsame Geschiedene nun in den Armen eines Mannes, der die Verkörperung der Sünde in Seide schien.
„Ich verstehe das nicht“, flüsterte sie, als sie zu tanzen begann.
Er beugte sich zu ihr vor, sein Atem streifte ihr Ohr.
Sie beobachten mich. Wenn sie darüber nachdenkt, ich sei verheiratet, lasse sie meine Familie in Ruhe. Heute Abend seid ihr meine Familie.
Vivians Herz raste.
Befinden Sie sich in Gefahr?
Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen.
– Stets.
Die Gäste, die noch Minuten zuvor über sie getuschelt hatten, blickten sie nun schweigend an. Vivian, die allein gekommen war, war plötzlich zum Mittelpunkt einer geheimen Geschichte geworden.
Als die Musik aufhörte, verbeugte er sich leicht.
— Vielen Dank, Frau DiLorenzo.
Sein Herz machte einen Sprung.
„Und was dann?“, fragte sie.
Er lächelte leicht, ein amüsiertes Funkeln blitzte in seinen dunklen Augen auf.
— Wir werden so tun, als ob. Im Moment ist es das, was dich schützt.
Am nächsten Morgen parkte langsam eine schwarze Limousine vor ihrem Haus. Der Fahrer stieg aus, Regentropfen tropften auf seinen Mantel, und überreichte ihr eine cremefarbene Karte mit Goldprägung:
„Herr Antonio DiLorenzo bittet um Ihre Anwesenheit.“
Vivians Instinkt riet ihr zur Vorsicht, doch ihre Neugier war zu stark. Wenige Stunden später stand sie in einer Villa mit Marmorböden, die eher einem Museum als einem Wohnhaus glich.
Antonio war da – seine Krawatte gelockert, sein Blick immer noch scharf, aber schwer von Müdigkeit.
„Du hast das gestern Abend gut gemacht“, sagte er ruhig. „Ich schulde dir etwas.“
„Ich habe es getan, um den Abend zu überstehen“, antworteten sie und verschränkte die Arme.
Er machte einen Schritt auf sie zu.
— Leider sind diejenigen, die uns beobachtet haben, nun davon überzeugt, dass Sie meine Frau sind. Sollte sie feststellen, dass dies nicht der Fall ist, werden sie handeln. Das kann ich nicht zulassen.
Die Wucht seiner Worte lastete schwer auf ihr. Bis jetzt war Vivians Welt klein gewesen – Arbeit, Zuhause, das Lachen ihres Sohnes in ihrer bescheidenen Wohnung. Nun fand sie sich in etwas Größerem, Dunklerem und ungemein Fesselndem verstrickt.
Aus Tagen wurden Wochen. Leibwächter folgten ihr auf Schritt und Tritt. Anfangs war sie genervt davon, doch als sie Antonio in ihrer Welt beobachtete – mit stiller Autorität und unerwarteter Sanftmut –, entspannte sich etwas in ihr.
Eines Abends, als der Regen gegen die Fenster des Herrenhauses prasselte, fand sie ihn in der Nähe des Kamins, ein ungeöffnetes Glas Whiskey in der Hand.
„Warum ich?“, fragte sie leise. „Du hättest jeden anderen wählen können.“
Sein Blick hob sich zu ihr, offen und ehrlich, ausnahmsweise ohne Maske.
„Weil du nichts mehr zu verlieren hast“, sagte er. „Und weil du nicht weggelaufen bist.“
Vivians Brust schnürte sich zusammen. In ihrer Stimme lag keine Verführung, nur nackte Wahrheit.
Stille breitete sich zwischen ihnen aus, schwer von all dem, was unausgesprochen blieb. Dann streifte seine Hand zögernd, aber bestimmt ihre.
„Bleib hier“, murmelte er. „Nur bis das alles vorbei ist.“
Die Lüge der Ehe wurde zu ihrer seltsamen Realität. In elitären Kreisen kursierten Gerüchte – man munkelte, Antonio DiLorenzo habe heimlich geheiratet. Vivian lernte seine Gewohnheiten, sein Schweigen, seine Stimmungsschwankungen kennen. Sie erkannte die Müdigkeit hinter seiner Stärke, die Einsamkeit hinter seiner Selbstbeherrschung.
Und irgendwo zwischen Verspieltheit und Intimität hörte ihr Herz auf, etwas vorzuspielen.
Dann kehrte die Gefahr zurück, brutal.
Sie verließen gerade eine Wohltätigkeitsgala, als Scheinwerfer viel zu nah und viel zu schnell auftauchten. Männer sprangen heraus, die Waffen gezogen. Antonios Männer reagierten sofort, doch nicht bevor er sie hinter sich stieß – und den Schlag abfing, der für sie bestimmt war.
Schüsse zerrissen die Nacht. Vivians Schrei hallte inmitten des Chaos wider.
Stunden später, im kalten Licht eines Krankenzimmers, saß sie an seinem Bett, ihre zitternde Hand ruhte auf seiner.
„Du hättest sterben können“, flüsterte sie, und endlich flossen die Tränen.
Ihre Lippen verzogen sich zu einem schmalen Lächeln.
— Ich wäre lieber du.
Vivian stieß ein leises Lachen aus, das von Schluchzern überwältigt wurde.
— Damit wären wir quitt.
Er ballte die Finger zur Faust, seine Stimme war heiser.
– Heirate mich.
Sie blinzelte fassungslos.
— Handelt es sich hierbei um eine weitere inszenierte Veranstaltung?
Sein Blick traf ihren – ohne Verstellung, ohne Rüstung.
— Nein. Das ist die einzige Wahrheit, die mir noch geblieben ist.
Ein paar Monate später spielte dasselbe Orchester erneut.
Der Regen tropfte an den Fenstern des Ballsaals herab, genau wie in der Nacht, als sie sich kennengelernt hatte. Doch diesmal war Vivian nicht mehr die Frau, die in einer Ecke saß. Sie war Mrs. Vivian DiLorenzo – die Ehefrau des Mannes, die sie einst mit einer Lüge gerettet hatte und die sie nun mit einer tiefen Liebe liebte, die er nicht länger verbergen konnte.
Antonio beugte sich zu ihr vor, während sie unter dem Kronleuchter schwangen.
— Erinnerst du dich an unseren ersten Tanz?
Vivian lächelte, ihr Herz war voller Freude.
— Wie könnte ich das vergessen? Du hast mich entführt, um mich zum Glück zu führen.
Er lachte leise.
— Und du hast mich vor einem Leben voller Verstellung bewahrt.
Die Musik schwoll an, die Menge applaudierte, und der Regen ließ die Fenster wie einen Segen glänzen.
Vivian blickte zu dem Mann auf, der mit einem gefährlichen Angebot in ihrem Leben getreten war – und verstand, dass manchmal die unerwartetsten Einladungen diejenigen sind, die einen genau dorthin führen, wo man sein muss.