Das Johnson-Haus in der Sycamore Lane war der Begriff vorstädtischer Perfektion. Eingebettet zwischen anderen Einfamilienhäusern in den Vororten von Columbus, Ohio, glänzte seine weiße Fassade, und der Rasen war ein Teppich aus sorgfältig gepflegtem Grün. Von außen versprach es den amerikanischen Traum. Doch können Versprechen, wie Porträts, schöne Lügen sein.
Eines Nachmittags stand Emily Johnson mit einem Stapel Post in der Hand und einem geübten Lächeln im Gesicht an der Haustür und begrüßte ihre Nachbarin Martha.
„Emily, dein Garten ist einfach wunderschön“, lobte Martha und kniff die Augen zusammen. „Ich bin immer wieder beeindruckt, wie du alles in so makellosem Zustand hältst.“
Emilys Lächeln wurde etwas angespannter. „Danke, Martha. Mein Mann Michael ist ein sehr gewissenhafter Mann.“ Sie zupfte selbst in der feuchten Luft Ohios automatisch den Ärmeln ihrer langärmeligen Bluse zurecht. Emily war eine Frau, die eine zarte, schnell entschuldigende Bescheidenheit ausstrahlte. Ihr schulterlanges braunes Haar war stets ordentlich, und ihre Kleidung war schlicht, aber sauber. Und sie trug immer lange Ärmel.
„Macht Michael heute wieder Überstunden?“, fragte Martha.
„Ja, er hat als Verkaufsleiter unglaublich viel zu tun“, antwortete Emily mit einem Anflug von geübtem Stolz in der Stimme. Michael war der perfekte Ehemann für die Nachbarschaft. Groß, gutaussehend und stets höflich, war er der Mann, der jeden Sonntag den Rasen mähte und jedem freundlich zuwinkte. Er nahm an jeder Elternratssitzung teil und engagierte sich ehrenamtlich bei örtlichen Veranstaltungen. Äh war perfekt.
Von drinnen ertönte eine sanfte Stimme. „Mama? Kannst du mir bei den Hausaufgaben helfen?“
„Es tut mir leid“, sagte Emily, drehte sich schnell um und zog sich in die kühle Dunkelheit des Hauses zurück.
Im Wohnzimmer starrte ihre zwölfjährige Tochter Sophia rührend auf ihr Mathebuch. Sophia war ein hübsches, ruhiges Mädchen mit blondem Haar, das sie von ihrem Vater geerbt hatte, und einem höflichen Wesen, das sie bei den Lehrern beliebt machte. Als Musterschülerin war ihr Zeugnis voller Einsen und Zweien.
„Was ist passiert, Schatz?“, fragte Emily und setzte sich neben sie.
Sophia machte auf das Problem aufmerksam, doch ihr Blick war nicht auf die Seite gerichtet. Ihr Blick fiel auf das Handgelenk ihrer Mutter, wo der Ärmelaufschlag ein paar Zentimeter hochgerutscht war. Emily zog ihn hastig herunter.
„Oh, richtig. Brüche“, sagte Emily mit etwas zu fröhlicher Stimme. „Mal sehen …“
Doch Sophia machte sich keine Sorgen mehr um Mathe. In letzter Zeit war die Distanz zwischen ihnen größer geworden. Ihre Tochter ging nach der Schule direkt in ihr Zimmer, und die leisen Gespräche der Kindheit wichen einem wachsamen Schweigen. Emily redete sich ein, es sei erst die Pubertät, eine Phase, die alle Mädchen durchmachen. Das war einfacher, als über alles andere nachzudenken.
Um genau 18:00 Uhr sandte das Geräusch von Michaels Auto in der Einfahrt eine vertraute, leise Welle der Unruhe durch das Haus.
„Ich bin zu Hause“, rief er von der Tür aus. „Wie war dein Tag?“
„Willkommen zu Hause“, antwortete Emily und strich hastig ihre Schürze glatt. „Das Abendessen ist schnell fertig.“
Michael betrat das Wohnzimmer und lockerte seine Krawatte. Er war der Begriff des Erfolgs. „Sophia, hast du deine Hausaufgaben fertig?“
„Ja, Papa. Mama hat mir geholfen.“
„Braves Mädchen“, sagte er und streichelte ihr herrisch über den Kopf. Für jeden, der ihn beobachtete, war er ein liebevoller Vater.
Das Abendessen war für uns ein Ritual. Michael erzählte von seinen Erfolgen bei der Arbeit: hervorragende Verkaufszahlen, Lob von seinem Chef und die Ankündigung einer Beförderung. Emily und Sophia hörten schweigend und gespannt zu.
„Und, wie war es im Supermarkt, Emily?“, fragte er und sah sie mit durchdringendem Blick an. „Ist irgendetwas Ungewöhnliches passiert?“
„Nein, nichts Besonderes. Das Übliche“, antwortete sie vorsichtig und hob ihre Gabel über ihren Teller.
„Gut. Sie sind gewissenhaft“, sagte er, sein Ton so glatt wie polierter Stein. „Aber ich habe gehört, dass heutzutage sogar Teilzeitfrauen Affären haben. Man kann nicht vorsichtig genug sein.“
Sophias Gabel schlug auf den Teller. Das metallische Geräusch war in der angespannten Stille unnatürlich laut.
„Alles in Ordnung, Schatz?“, fragte Emily und sah ihre Tochter an.
„Entschuldigung“, murmelte Sophia und holte schnell ihr Telefon.
Nach dem Abendessen, während Michael fernsah und Emily das Geschirr spülte, machte Sophia ihre Hausaufgaben fertig und verschwand nach oben. Die Stille, die sie hinterließ, war bedrückend.
„Sophia scheint in letzter Zeit etwas niedergeschlagen zu sein“, wagte Emily später zu sagen, als sie in der Wohnzimmertür stand.
„Es ist Pubertät“, sagte Michael, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden. „Mädchen in diesem Alter sind hart. Sei einfach vorsichtig mit ihr. Sie wird es schaffen.“
Emily nickte und akzeptierte sein Urteil. Michael hatte in solchen Dingen immer recht. Alle Nachbarn lobten ihn für seinen wunderbaren, einfühlsamen Vater.
Als sie später in Sophias Zimmer spähte, sah sie ihre Tochter lesend im Bett liegen. „Gute Nacht, Sophia.“
„Mama?“ Sophia drehte sich um und musterte sie mit ihren blauen Augen. „Bist du glücklich?“
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