„Meine geliebte Clara,
wenn du diesen Brief liest, bin ich wahrscheinlich nicht mehr bei dir. Es ist Zeit, dass du weißt: Der Mann, den du dein Leben lang für deinen Vater gehalten hast, war nicht dein leiblicher Vater. Aber er hat dich geliebt, mehr als alles andere. Und der andere Mann – er wusste nie von dir. Ich schwieg, um die Familie zu schützen. Bitte verzeih mir.“
Clara legte den Brief aus der Hand, atmete schwer. Ihr ganzes Leben lang hatte sie gedacht, sie kenne ihre Herkunft. Nun war alles anders.
Wochenlang kämpfte sie mit dieser Wahrheit. Sollte sie nach diesem unbekannten Mann suchen? Hatte sie Halbgeschwister irgendwo da draußen?
Schließlich entschied sie sich, nachzuforschen. Über alte Unterlagen, Kirchenregister und mit Hilfe des Tagebuchs fand sie den Namen des Mannes. Er lebte nicht mehr – doch er hatte eine Familie hinterlassen. Kinder, die in ihrem Alter waren.
Eines Tages schrieb sie ihnen einen Brief. Mit zitternder Hand erklärte sie, wer sie war. Wochenlang kam keine Antwort. Clara dachte schon, sie hätte einen Fehler gemacht.
Doch dann, an einem regnerischen Nachmittag, klingelte es an ihrer Tür. Vor ihr stand eine Frau, die ihr erschreckend ähnlich sah. „Ich bin Anna“, sagte sie leise. „Ich glaube, wir sind Schwestern.“
Die beiden umarmten sich, Tränen liefen über ihre Gesichter.
Plötzlich verstand Clara, was ihre Mutter mit all dem Schweigen hatte schützen wollen – und doch auch, was sie ihr mit dem Tagebuch geschenkt hatte: die Möglichkeit, ein neues Kapitel zu beginnen.
Heute, Jahre später, sitzt Clara oft mit Anna unter dem alten Apfelbaum im Garten ihrer Mutter. Sie lesen gemeinsam aus dem Tagebuch, lachen über die Einträge, weinen über das Ungesagte und sind dankbar für das Geschenk, das sich hinter einer staubigen Holztruhe verborgen hatte: die Wahrheit – und eine neue Familie.