Er hatte seine Geliebte ins Theater mitgenommen. Plötzlich stieg seine Frau aus einer Limousine. Er wappnete sich für einen Skandal, doch seine Frau ging an ihm vorbei, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen.

Sie betrat die Oper am Arm eines Fremden, und in diesem Moment zerbrach seine heilige Welt in tausend Stücken und gab die Trümmer preis, die er selbst gegründet hatte. Die beiden Eintrittskarten – diese kostbaren Papierfetzen, mit denen er den Ästheten mimte – wären Artour fast aus den tauben Fingern geglitten, als er die schwarze Limousine, spiegelglatt poliert, elegant unter dem erleuchteten Portikus der Grand Opéra vorfahren sah. Die Luft dieses kalten Pariser Abends war ein dicker Cocktail aus nassem Asphalt, teuren Parfums und fieberhafter Erwartung. Fast instinktiv umklammerten seine Finger Lilias Hand – jung, strahlend, noch ahnungslos, dass sie nur eine Spielfigur in einem fremden Spiel war. Dann, wie in Zeitlupe, öffnete sich die matte Autotür.

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Und dann erschien sie. Viktoria. Nicht als Ehefrau, nicht wie üblich als Schatten in seinem Leben, sondern als kalte, berechnete Rachegöttin, gehüllt in ein tief burgunderrotes Kleid, von dem er genau wusste, dass es mehr als drei Monatsgehälter wert war. Die Seide umfloss sie flüssig wies Kupfer und schimmerte im Scheinwerferlicht. Sie warf ihm keinen einzigen Blick zu, als wäre er nichts, ein Geist, der keiner Beachtung würdig war. Artour erstarrte, als Viktoria – seine Vika, die Frau, die ihm fünfzehn Jahre lang morgens Kaffee gekocht hatte, seine Hemden perfekt gebügelt und seine endlosen Monologen beim Abendessen schweigend gelauscht hatten – mit erhobenem Kinn den Tempel der Kunst betrat. Ihre Hand ruhte in der Armbeuge eines Mannes im tadellosen Rauchen, dessen Haltung und stilles Selbstvertrauen Reichtum und Macht ausstrahlten.

Artour hatte diesen Mann noch nie zuvor gesehen. Der Fremde beugte sich zu ihr vor, flüsterte etwas, und ein aufrichtiges, kaum merkliches Lächeln umspielte seinen Mundwinkel. Er hielt sie mit der Zartheit, die man nur dem Kostbaren entgegenbringt, mit einer Ehrfurcht, die Artour ihr gegenüber, so schien es, noch nie zuvor empfunden hatte.

— Artour, Liebling, wer sind diese Leute?, flüsterte Lilia, und in ihrer Stimme schwang die erste Spur von Sorge mit, die bereits stärker war als die Freude über den lang ersehnten Abend.

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Artour antwortete nicht. Er konnte nicht. Seine Kehle schnürte sich zu unter einem unsichtbaren Knoten aus Scham und Erkenntnis. Denn in diesem eisigen Augenblick traf ihn die ganze schreckliche Wahrheit wie ein Schlag. Viktoria wusste es. Sie hatte es schon lange gewußt. Und jener Abend, jene Oper, jene „Begegnung“ – nichts daran war zufällig.

Es war nicht bloß eine Machtdemonstration. Es war eine bis ins kleinste Detail geplante, kalte Kriegserklärung, die ohne einen einzigen Schuss abgegeben wurde. Ein Krieg, den er bereits verloren hatte, ohne überhaupt von dessen Beginn gewusst zu haben.

Artour hatte sich stets als verwöhntes Glückskind betrachtet, als „Goldjunge“, dem eine glänzende Zukunft bevorstand. Als Abteilungsleiter eines angesehenen, soliden mittelständischen IT-Unternehmens fuhr er einen brandneuen Audi A6, dessen Innenraum nach Leder und Silber duftete, trug eine Schweizer Uhr mit angenehmem Gewicht am Handgelenk und erntete von seinen Kollegen Blicke, die Bewunderung und Neid gleichzeitig ausdrückten. Für ihn hatte Erfolg einen greifbaren Duft: Leder, edler Tabak und gereifter Whisky, der einen bitteren Nachgeschmack des Sieges auf der Zunge hinterließ.

Doch zu Hause … zu Hause herrscht eine andere Welt. Ruhig, vorhersehbar, penibel geordnet. Viktoria klagte nie. Die Vorzeige-Ehefrau, der Uhrwerkmechanismus ihres Alltags. Sie stehen um sechs Uhr auf, damit der Kaffee schon dampfend auf dem Tisch steht und der Toast goldbraun war, wenn er erwachte. Sie fragten ihn, wie sein Tag gewesen sei, und er, die Nase in seinem Handy vertieft, murmelte ein Wort, einen Satzfragment. Abends servierte sie das Essen, lächelte ihr friedliches, leicht distanziertes Lächeln und unterhielt sich über Belanglosigkeiten, über ihren Sohn. Ihr Sohn Anton, fünfzehn Jahre alt, mitten in der Pubertät. Über das undichte Dach, einen Abend mit Freunden, ein neues Buch. Artour nickte, murmelte etwas vor sich hin, ohne zuzuhören. Seine Gedanken waren Woanders, bereits gefangen in der hektischen Welt der großen Geschäfte und geheimen Treffen, wo Bewunderung und Rausch auf ihn warteten.

Dann erschien Lilia in seinem Büro – diesem gläsernen Ameisenhaufen. Strahlend, sechsundzwanzig Jahre alt, mit einer Kaskade kastanienbraunen Haarpracht und einem Lachen so klar wie Kristallglocke. Marketingmanagerin. Sie sah Artour wie einen Halbgott an, hing an seinen Lippen, lachte über seine albernen Witze und fing seinen Blick über die Grenzen des Großraumbüros hinweg auf. Sie bot ihm, was Viktoria ihm seiner Meinung nach nicht mehr geben konnte: den berauschenden Nektar der Bewunderung, der Jugend und der bedingungslosen Verehrung.

Das erste Kaffee an der Ecke. Das erste Geschäftsessen, bei dem es schnell in Vertraulichkeiten abdriftete. Die erste SMS spät in der Nacht: „Ich vermisse dein Lachen im Büro.“ Die erste Lüge, so einfach: „Ich muss länger bleiben, Liebling, es ist ein dringender Notfall.“ Viktoria antwortete: „Ich verstehe. Nur keine Eile. Ich warte auf dich.“ Und er war sicher, dass sie wartete. Auf seine Rückkehr, sein kaltes Abendessen. Was er nicht wusste – was er sich nicht einmal vorstellen konnte –, war, dass Viktoria nicht auf seine Rückkehr wartete. Sie wartete auf Beweise. Sie wartete auf Gewissheit, wie ein Raubtier vor dem Sprung. Sie wartete auf den perfekten Moment, millimetergenau berechnet, um zuzuschlagen.

Denn Viktoria war nicht mehr die stille, unauffällige Frau, die sie all die Jahre gehalten hatte. Hinter der Fassade einer vorbildlichen, wenn auch etwas altmodischen Hausfrau verbarg sich der scharfe Verstand einer Schachspielerin, die zwanzig Züge vorausahnen konnte, und die stählerne Geduld eines Jägers auf der Lauer. Die ersten, fast unsichtbaren Risse in der Fassade ihrer Ehe zeigen sich vor knapp sechs Monaten. Ein fremder, femininer Duft hing an seinem Hemdkragen. Manchmal huschte ein schwaches, kaum wahrnehmbares Lächeln über sein Gesicht, wenn er eine Nachricht las – ein Lächeln, das er ihr seit Jahren nicht mehr geschenkt hatte. Sein iPhone, dieser treue Begleiter, lag immer öfter mit dem Bildschirm auf dem Tisch, als schämte es sich für seinen Inhalt.

Viktoria hatte keinen Aufstand gemacht, sich nicht in den Schlaf geweint. Sie handelte mit der kalten, berechnenden Methode einer Geheimagentin. Sie ging zur Bank, um ein separates Konto zu eröffnen, auf dem sie das Geld der „Geschenke“, die er ihr widerwillig machte, beiseitelegte. Sie kaufte sich ein elegantes Notizbuch aus Leder und notierte fortan jede merkwürdige Ausgabe, jede Verspätung im Büro, jeden Nachrichtenfetzen, der unerwartet auf seinem Handy aufploppte. Dank ihrer technikbegeisterten Nichte fand sie schließlich seinen Namen heraus: Lilia Dubois. Doch selbst jetzt, obwohl sie alle Fäden in der Hand hielt, wusste sie immer noch nicht, wie sie mit diesem Lügengeflecht umgehen sollte. Was die angemessene Reaktion sein sollte.

Da führte das Schicksal, des Arroganzes Artours überdrüssig, sie mit einem Mann zusammen, der ihr den Weg in eine neue Welt eröffnete. Ein Mann, der ihr, ohne die geringste Spur von Flirt, ruhig und respektvoll etwas Wesentliches offenbarte: dass sie, Viktoria, einen unveräußerlichen Wert besaß. Nicht als Artours Ehefrau. Nicht nur als Antons Mutter. Sondern als Viktoria. Der Wert ihrer Person, ihres Geistes, ihrer Seele.

Dieser Mann hieß Mark Semionov. Ein renommierter und erfolgreicher Architekt. Ruhig, mit ergrauten Schläfen, kultiviert und etwa zehn Jahre älter als Artour. Inhaber eines angesehenen Architekturbüros. Ein Mann mit einer seltenen Gabe: der Kunst des aufmerksamen Zuhörens. Ihr Gespräch begann mit den Renovierungsplänen für ihr Landhaus. Viktoria stellte Fragen zu Materialien und Stilen; er antwortete sorgfältig und ging auf jede ihrer Ideen ein, selbst auf die vageesten. Bald gingen ihre Gespräche über das Berufliche hinaus. Sie konnten stundenlang über Kunst, Bücher und das Leben sprechen. Und zum ersten Mal seit Langem hatte Viktoria das Gefühl, nicht nur gehört, sondern auch gesehen zu werden. Wirklich.

Viktoria suchte nicht Trost in seinen Armen. Gestützt auf diese freundschaftliche Unterstützung traf sie eine Entscheidung, die alles veränderte. Mark bot ihr an, ihr zu helfen, „sich selbst zu finden“. Nicht als Geliebter, sondern als Freund. Als Verbündeter und Zeuge ihrer tiefgreifenden Wandlung.

Und Viktoria begann sich zu verändern. Nicht von heute auf morgen, sondern eher wie ein Knopf, der sich öffnet. Sie meldete sich nicht in einem Fitnessstudio an, sondern in Tangokursen, wo man lernt, nicht nur die Musik, sondern auch den eigenen Körper wahrzunehmen. Sie suchte eine Psychologin auf – nicht um sich über ihren Mann zu beklagen, sondern um zu verstehen, was in ihr vorging. Sie krempelte ihre Garderobe um und trennte sich von den anonymen, bequemen Kleidern, um sich in ihnen stark und schön zu fühlen. Nicht für Artour. Nur für sich selbst. Sie vertiefte sich in Bücher über Finanzen, psychische Unabhängigkeit und Familienrecht und wandelte sich von einem Opfer zu einer Expertin für ihre eigene Zukunft.

Artour, geblendet von Lilias Ausstrahlung, sah nichts. Er war zu sehr damit beschäftigt, sich im Licht seiner Bewunderung zu sonnen.

An einem ereignislosen Abend sagte Viktoria ihm beim Abendessen ganz beiläufig: „Schatz, ich fahre nächstes Wochenende nach Lyon. Mit Irina.“ Ohne von seinem Newsfeed aufzusehen, zuckte er mit den Achseln: „Natürlich. Viel Spaß.“

Viktoria ging. Aber nicht nach Lyon, auch nicht mit einer Freundin. Sie stellte sich dem Schrecken der Familienanwälte: einer Frau mit eiskaltem Blick, deren Ruf selbst die abgebrühtesten Wirtschaftsjuristen erzittern ließ. Und als sie zurückkehrte, hatte sie mehr als nur einen Plan dabei. Es war ein strategischer Plan der totalen und unwiderruflichen Vernichtung. Scheidung, Aufteilung des Vermögens zu ihren Gunsten, Sorgerecht für ihren Sohn. Und noch mehr: eine perfekt inszenierte und elegante öffentliche Demütigung. Denn Viktoria wusste instinktiv, dass wahre Rache weder Geschrei noch zerschlagenes Geschirr ist. Wahre Rache ist, einem Mann – und der Welt – in Stille zu zeigen, dass er verloren hat, ohne auch nur Widerstand zu leisten.

Artour, auf den Marmorstufen des Opernhauses, spürte, wie ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Viktoria war mit dem Fremden im leuchtenden Portal verschwunden. Die Welt drehte sich weiter: Damen in Zobelmänteln, Herren im Frack, Lachen, Geplauder, das Klirren von Juwelen. Niemand beachtete diesen Mann, dem gerade der Boden unter den Füßen weggezogen worden war.

— Schatz, sitzen wir jetzt die ganze Nacht hier fest? Wir haben doch Fahrkarten, oder?, fuhr Lilia sie an, nun eher verärgert als besorgt.

Tickets. Diese verdammten Tickets, die er einen Monat zuvor gekauft hatte, um seine junge Geliebte zu beeindrucken, um ihr die Weite „seiner“ Welt zu zeigen. Karten für eine Premiere an der Grand Opera. Viktorias geliebter Spielort, zu dem sie ihn jahrelang schüchtern eingeladen hatte. „Langweilig“, hatte er immer abweisend gesagt. „Eine sinnlose Ausgabe für viel Gezeter.“ Und nun stand er da mit Lilia, während seine Frau – seine diskrete, unsichtbare Vika – wie eine Königin eintrat.

— Artour, wer war die Frau in der Limousine?, wiederholte Lilia und zog eine Augenbraue hoch.

„Niemand“, hauchte er und spürte, wie die Lüge auf seinen Lippen brannte. „Du hast es geträumt. Eine Frau, die ihm ähnlich sah.“

Doch als er den vergoldeten, samtverkleideten Saal betrat, wurde er mit der Wahrheit in all ihrer Demütigung konfrontiert. Viktoria saß in der zentralen VIP-Loge. Diese Plätze, Symbole für Status und Reichtum, hätte er sich niemals gekauft, „viel zu teuer für nichts“. Neben ihr saß Mark mit einer Aura natürlicher Nonchalance. Elegant, ungerührt, mit dem leichten Lächeln eines Mannes, der sich seines Wertes sicher war und niemandem mehr etwas beweisen musste.

Und Viktoria… Viktoria war die Verkörperung triumphierender Schönheit. Das bordeauxrote Kleid schien wie angegossen und betonte jede Linie, die er längst vergessen hatte zu sehen. Ihr Haar, das er nur in einem hastig hochgesteckten Dutt kannte, fiel in schweren, duftenden Wellen. Eine smaragdgrüne Halskette – kunstvoll, eindeutig antik – funkelte um ihren Hals; er wusste, dass er sie ihr nie geschenkt hatte. Mark beugte sich vor und flüsterte ihr ins Ohr. Viktoria lachte – nicht aus Höflichkeit oder Zurückhaltung, sondern ein klares, ungehemmtes Lachen, den Kopf in den Nacken geworfen. Artour hatte dieses Lachen seit Ewigkeiten nicht mehr gehört.

— Artour, aber ist das wirklich deine Frau?, zischte Lilia wütend.

„Meine Ex“, platzte er heraus, obwohl er bis zu diesem Zeitpunkt nie an Scheidung gedacht hatte. Sie waren rundum glücklich mit ihrem gemeinsamen Leben.

— Ex? Du hast mir gar nichts erzählt! Was macht sie hier? Und wer ist dieser Mann?

Artour antwortete nicht. Eine überwältigende Gewissheit überkam ihn: Es war kein Zufall. Es war ein Spiel im Spiel. Viktoria wusste, dass er da sein würde. Dass er mit Lilia da sein würde. Sie wusste alles. Und diese Darbietung war ihr stummes, donnerndes Ultimatum: „Ich habe dein Spiel gesehen. Ich habe das letzte Drittel entschieden. Das Spiel gehört mir.“

In der Pause schritt Viktoria, der Ballkönigin würdig, in die prunkvolle Eingangshalle hinab. Artour, wie von einem unsichtbaren Faden angezogen, folgte ihr. Er sah sie, wie sie sich ungezwungen mit einer Gruppe eleganter und stattlicher Leute unterhielt. Diese hingen an ihren Lippen, lachten und warteten gespannt auf ihre Antworten. Mark hielt sich etwas abseits, nicht auf Dominanz bedacht, einfach nur anwesend, eine verlässliche Nachhut, der stille Wächter seines neuen Status.

Artour, der gegen seinen eigenen Widerstand ankämpfte, näherte sich. Viktoria wandte sich ab. Ihr Gesichtsausdruck verriet weder Wut noch Hass noch Verachtung. Nur eines: absolute, eisige, totale Gleichgültigkeit. Furchterregender als jeder Zorn.

„Ja?“, fragte sie höflich, wie zu einem aufdringlichen Kellner oder einem unbekannten Vertreter. „Kann ich Ihnen helfen?“

„Wir müssen reden“, sagte er mit heiserer Stimme.

„Was ist es?“, fragte sie und zog eine perfekt geformte Augenbraue hoch.

— Über das, was du tust! Über… diesen Zirkus!

„Ein Zirkus?“, wiederholte sie und betonte das Wort leicht, um dessen Absurdität hervorzuheben. „Artour, ich genieße gerade die Oper mit einem Freund. Was ist daran zirkusähnlich? Oder hast du dich etwa endgültig in die Oper verliebt und willst mit der Sopranistin diskutieren?“

— Du weißt ganz genau, wovon ich spreche! Seine Stimme wurde lauter und zog neugierige Blicke auf sich.

„Nein, wirklich nicht“, erwiderte sie mit messerscharfer Stimme. „Wenn es sich um eine berufliche Angelegenheit handelt, wenden Sie sich bitte an meinen Anwalt. Ich habe Ihnen alle Kontakte und Dokumente vor drei Tagen geschickt. Wie immer haben Sie Ihre E-Mails nicht gelesen, nicht wahr?“

— Ihr… Anwalt? Er war sprachlos.

— Genau. Die Scheidungspapiere sind fertig. Die Vermögensaufteilung erfolgt gemäß dem Ehevertrag, den du mich unterschreiben ließest, so selbstsicher bist du ja in Bezug auf deine finanzielle Stabilität. Das Haus im Vorort gehört mir. Ich habe die Hypothek komplett mit dem Erbe meiner Großmutter abbezahlt, du hast also keinerlei rechtlichen Anspruch darauf. Dein Lieblingsauto? Tut mir leid, meins auch. Ein offizielles Geschenk meines Vaters zu unserem zehnten Hochzeitstag. Wirklich vergessen?

Artour stockte der Atem. Der Raum vibrierte.

— Du hast kein Recht dazu! Das ist mein Haus! Mein Leben!

„Ich habe das Recht dazu. Und es ist bereits geschehen“, erwiderte sie, und ein stählerner Funke blitzte in ihren Augen auf. „Während du eine illusorische Romanze aufgebaut hast, habe ich mir meine wahre Unabhängigkeit erarbeitet.“

In diesem Moment näherte sich Mark sanft, fast lautlos, und legte ihm leicht die Hand auf den Ellbogen.

„Ist alles in Ordnung, Vika?“, fragte er und sein Blick glitt ohne das geringste Interesse über Artour.

„Perfekt“, sagte sie und wandte sich ihm zu, ihr Gesicht von einem warmen, ehrlichen Lächeln erhellt. „Der Herr war gerade im Begriff zu gehen.“

Artour blieb wie angewurzelt stehen, unfähig sich zu rühren, und sah zu, wie Viktoria sich umdrehte und in ihr neues Leben ging – luxuriös und ihm völlig fremd. Ein Leben, in dem er, wie er feststellte, nicht einmal als Statist vorgesehen war.

Zwei Wochen später befand er sich in der Anwaltskanzlei Viktorias. Ein karges, hochtechnisiertes Interieur, so kalt wie seine neue Realität. Die Akte lag vor ihm, und jede Seite knallte wie eine Peitsche und prangerte seine Blindheit, seine Verachtung, seinen kleinlichen Verrat an. Doch der letzte Schlag, der seine Vaterschaft besiegelte, war die offizielle, notariell beglaubigte Erklärung ihres sechzehnjährigen Sohnes Anton. In klaren, unmissverständlichen Worten brachte der junge Mann seinen Wunsch zum Ausdruck, bei seiner Mutter zu leben.

In jener Nacht, unfähig, seinen Kummer zu betäuben, kehrte Artour in das Haus zurück, das ihm nicht mehr gehörte. Das Küchenfenster tauchte das Licht in ein goldenes, honigsüßes Licht. Er konnte Viktorias Silhouette erkennen: Sie rührte etwas in einem Topf um, ihre Bewegungen ruhig und friedlich. Am Tisch saß Anton, über sein Handy gebeugt, und lächelte – jenes Lächeln, das er seinem Vater seit Monaten nicht mehr geschenkt hatte. Das Haus war nicht nur warm; es wirkte vollständig, vollkommen, erfüllt von einem Frieden, der, wie er begriff, während seiner Zeit dort nie existiert hatte.

Ohne nachzudenken, drückte er die Türklingel. Anton öffnete. Sein Gesichtsausdruck verriet weder Überraschung noch Freude. Nur eine vorsichtige Höflichkeit.

— Hallo Papa.

— Hallo, mein Sohn. Darf ich reinkommen? Artours Stimme zitterte.

— Mama meinte, wir müssten zuerst anrufen. Wir müssen uns organisieren.

— Anton, aber… das ist doch auch mein Haus!, protestierte er, als er die Falschheit seiner eigenen Worte erkannte.

„Nein, Dad. Nicht mehr“, antwortete der Teenager ruhig, mit einer unerbittlichen Entschlossenheit, die Artour erschaudern ließ. „Mama hat mir alles erzählt. Über dich … über diese Frau. Über alles. Ehrlich gesagt, dachte ich, du wärst klüger. Besser.“

Die Tür schloss sich mit einem leisen, aber bestimmten Klicken. Artour blieb draußen in der beißenden Kälte stehen und starrte auf den Spalt unter der Tür, durch den das warme Licht seines früheren Lebens drang.

Nach Dutzenden verzweifelter Briefe und Anrufe willigte Viktoria in ein einziges Treffen ein. Auf neutralem Boden, in einem jener Pariser Cafés, in denen sich hinter den Glaswänden das unbeschwerte Leben anderer abspielt.

Als er hereinkam, saß sie schon am Fenster, eine dampfende Tasse Cappuccino vor sich. Ungeschminkt, nur in Pullover und Jeans. Müde, aber nicht gebrochen. Eher so, als hätte sie gerade eine schwierige Phase überstanden und sie gemeistert.

„Vielen Dank fürs Kommen“, begann er und setzte sich.

„Ich habe noch fünfzehn Minuten“, sagte sie und warf einen Blick auf ihre Uhr. „Dann lasse ich mich massieren.“

— Vika… Es tut mir leid. Es tut mir so leid.

Sie blieb still und wartete auf ihn, den Blick gesenkt hinter ihren Wimpern.

Ich weiß, diese Worte reichen nicht. Ich weiß, ich habe alles, was wir hatten, mit meinen eigenen Händen zerstört. Aber ich bereue es. Jede Sekunde. Ich war blind, selbstzufrieden. Ich habe dich nicht wertgeschätzt. Ich habe dich nicht gesehen.

Viktoria hob langsam den Blick. Ihr Blick war ruhig und sanft, wie die Oberfläche eines Sees an einem windstillen Tag.

— Du hast mich schon lange betrogen, bevor Lilia in dein Leben trat, Artour.

Er erstarrte, eine eisige Welle rann ihm den Rücken hinunter.

– Was ?

Du hast mich jeden Tag betrogen. Jedes Mal, wenn du mir nicht zugehört hast. Jedes Mal, wenn du dich umgedreht und eingeschlafen bist, während ich versucht habe, dein Herz zu erreichen. Jedes Mal, wenn du meinen Geburtstag vergessen hast, unsere Verabredungen, ja, mich überhaupt vergessen hast. Lilia war nur das logische, fast unausweichliche Ende. Das Symptom, nicht die Krankheit.

Sie nahm einen eleganten Schluck Kaffee.

— Fünfzehn Jahre lang habe ich dir alles gegeben, bis zum letzten Rest von mir selbst. Und du hast es für selbstverständlich gehalten. Als wäre ich Teil der Kulisse – ein bequemes Sofa, eine zuverlässige Kaffeemaschine.

“Daran habe ich nicht gedacht…”, stammelte er.

„Genau“, sagte sie und nickte zustimmend, ohne Trauer oder Wut zu vernehmen. „Du hast nicht darüber nachgedacht. Ich schon. Ständig. Wie ich dich glücklich machen kann. Wie ich besser, klüger, interessanter für dich werden kann. Bis zu dem Tag, an dem ich eine einfache Sache verstand: Das ‚Falsche‘ lag nicht an mir. Es lag an dir. Du hast einfach aufgehört, mich als Person wahrzunehmen.“

— Ich werde alles in Ordnung bringen! Gebt mir eine Chance! Ich gehe zu einer Therapeutin, wir können…

„Nein“, sagte sie leise, aber mit stiller Unnachgiebigkeit. „Es geht nicht mehr darum, was du für mich tun kannst. Es geht darum, was ich für mich selbst tun musste. Und das habe ich getan. Ich will dich nicht mehr in meinem Leben, Artour. Ich liebe dich nicht mehr. Ohne Respekt – sie hielt inne – zerfällt die Liebe zu Staub. Zurück bleibt nur Leere.“

Sie schob die Tasse weg, nahm ihre Tasche und stand auf.

— Unterschreiben Sie die Papiere. Und… lassen Sie Anton und mich in Ruhe. Bitte.

Sie ging, ohne sich umzudrehen. Artour blieb allein zurück, den Blick aus dem großen Fenster auf eine Stadt gerichtet, die ihm plötzlich fremd und gleichgültig erschien. Viktoria hatte Recht gehabt. Sie war nicht nur von Lilia verraten worden. Auch er hatte sie mit jedem abwesenden Blick, jedem ungehörten Wort, jedem vergessenen Versprechen verraten. Und er war es, der den Preis für diesen Verrat zahlen würde. Es war zu spät, umzukehren.

Anderthalb Jahre später, in seiner seelenlosen, möblierten Wohnung mit Blick auf einen grauen, gut belüfteten Innenhof, sah Artour sie durchs Fenster. Viktoria und Mark. Sie gingen langsam Hand in Hand über die Straße. Sie sprach, gestikulierte und lachte mit demselben klaren, ansteckenden Lachen, das sie in der Oper gehört hatte. Sie wirkte zehn Jahre jünger, leichter, als hätte sie eine enorme, unsichtbare Last abgeworfen, die sie jahrelang erdrückt hatte. Als hätte sie fliegen gelernt.

Instinktiv sprang er zur Tür, bereit, hinauszugehen, etwas zu rufen, diese Szene aus einem fremden Film zu beenden. Doch seine Beine gehorchten ihm nicht. Er konnte nicht. Und dann begriff er: Viktoria war direkt an ihm vorbeigegangen, und diesmal hatte sie nicht so getan, als sähe sie ihn nicht. Sie hatte seine Anwesenheit tatsächlich nicht bemerkt. Er war aus ihrer Realität verschwunden.

An jenem Abend fand er sein altes Ledernotizbuch auf einem entfernten Regal, ein Notizbuch, das er seit dem Studium nicht mehr geöffnet hatte. Er pustete den Staub ab, nahm einen Stift und schrieb auf einer leeren Seite: „Ich habe alles verloren, weil ich aufrichtig geglaubt habe, die Welt schulde mir etwas. Ich dachte, Liebe sei Bewunderung, Applaus, bedingungsloser Dienst hat und hofft. Ohne Geschrei, ohne Skandal, ohne Demütigung. Durch ihre stille und souveräne Verwandlung.

Er schloss das Notizbuch. Und zum ersten Mal seit Langem dachte er nicht an das, was er unwiederbringlich verloren hatte, sondern an das, was er, Artour, werden konnte und sollte. Nicht für Viktoria. Nicht für Lilia, die längst einen anderen „Helden“ gefunden hatte. Nicht einmal für Anton. Für sich selbst. Denn das war der Sinn seines Falls – bitter, aber gereinigt. Eine Lektion, bezahlt mit dem Preis seines gesamten bisherigen Lebens.

 

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