Eduardo Ramírez parkte seinen Luxuswagen – eine dunkle Limousine, die in der andalusischen Sonne glänzte – vor einem Haus, das einst ein stattliches Anwesen gewesen war, am Rande eines kleinen weißen Dorfes nahe Sevilla. Zwölf Jahre später erzählten die bröckelnden Mauern, die verblasste Farbe und das halb eingestürzte Dach eine Geschichte von Vernachlässigung und Elend, die er sich nie hätte vorstellen können. In der Luft lag der Geruch von Staub, feuchtem Putz und dem Duft von einsam emporrankendem Jasmin, der den kaputten Zaun hinaufwuchs.
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In einem makellosen, italienisch geschneiderten Anzug – vermutlich teurer als die Anzüge des gesamten Häuserblocks – hielt er einen schweren Abrisshammer in seinen zitternden Händen. Schweißperlen bilden sich auf seiner Stirn, nicht wegen der Hitze, sondern wegen einer Mischung aus Wut, Schuldgefühlen und Angst, die ihn wie gelähmt hielt. Er suchte nach dem Mut für seine Vorhaben, eine Machtdemonstration, die er sich die ganze Reise über von Madrid aus in Gedanken durchgespielt hatte.
In diesem Moment öffnete sich die gelöste Tür knarrend. Und sie erschien.
Gabriela.
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Die Frau, die er mehr als alles andere geliebt hatte, der Grund für seinen Erfolg und sein Unglück. Sie war da, zu dünn, in abgetragenen Kleidern, die an ihren zerbrechlichen Körper hingen. Ihre Augen – jene dunklen Augen, einst voller Lachen und Leidenschaft – waren nun müde, gezeichnet von Nächten eines zu langen und zu einsamen Kampfes.
Hinter ihr versteckten sich zwei kleine Mädchen verängstigt in den Falten ihres Rocks. Sie beobachteten den Mann in feiner Kleidung, der einen seltsamen Haufen Werkzeuge in den Händen hielt, als wäre er einem Albtraum entsprungen.
„Was machst du hier, Eduardo?“, fragte Gabriela. Ihre Stimme war kein Flüstern, sondern ein scharfer Schlag, erfüllt von einer Mischung aus Überraschung, Ungläubigkeit und einem alten, unverminderten Zorn.
Er antwortete nicht sofort. Die Worte blieben ihm im Hals stecken. Das Bild von ihr, so gebrochen, so anders als die Frau, an die er sich erinnert, und doch so schmerzlich ähnlich, entwaffnete ihn. Statt zu sprechen, ist er den Hammer. Die Geste war fast automatisch, ein Akt purer Frustration, der sich gegen ihn selbst richtete.
Er begann, auf die am stärksten beschädigte Wand des Hauses einzuschlagen, diejenige, die Gefahr lief, auf die Veranda einzustürzen.
Der dumpfe Aufprall von Metall auf Backstein hallte durch die Nachbarschaft. Tauben, die unter dem abgedeckten Dach genistet hatten, flohen panisch auseinander. Die kleinen Mädchen schrien und klammerten sich noch fester an ihre Mutter.
„Bist du verrückt geworden?! Hör auf!“, schrie Gabriela und rannte auf ihn zu, um das Wenige, was von ihr übrig war, zu schützen.
„Ich tue, was ich schon vor zwölf Jahren hätte tun sollen“, erwiderte Eduardo Heiser und schlug weiter zu. Jeder Treffer war ein Schlag gegen sich selbst, gegen den Feigling, der er gewesen war. „Ich repariere, was ich zerstört habe.“
Gabriela versuchte, seinen Arm zu packen, doch er war stärker. Der Hammer sauste weiter und riss Stücke aus der bereits halb eingestürzten Mauer, während sie ihn anschrie, dass sie seine Wohltätigkeit nach all der Zeit nicht mehr brauchen.
„Wohltätigkeit!“ Eduardo blieb wie angewurzelt stehen. Die plötzliche Stille war schnell so erschreckend wie der Lärm zuvor. Er starrte sie an, seine Brust hob und senkte sich heftig. „Du hältst das für Wohltätigkeit?“
Er ließ den Hammer fallen. Staub wirbelte um seine Füße auf. Mit einem Seidentaschentuch wischte er sich die Stirn und beschmutzte sie dabei. Er griff in die Innentasche seiner Jacke und zog einen großen, vergilbten Umschlag heraus. Seine Hände zitterten, als er ihr die Papiere reichte.
„Ich weiß von dem Baby, Gabriela. Ich wusste es schon immer.“
Das Blut aus Gabrielas Gesicht. Sie wurde kreidebleich, als hätte er sie gerade geschlagen. Die beiden kleinen Mädchen, beunruhigt über das plötzliche Schweigen ihrer Mutter, fragten flüsternd, wer dieser Mann sei und warum Mama weine.
Eduardo kniete auf dem festen Boden und kümmerte sich nicht darum, dass er Wasser auf seine mehrere tausend Euro teure Hose spritzte. Langsam öffnete er den Umschlag und zeigte alte Untersuchungsberichte und Krankenhausberichte. Sein Name war auf jeder Seite versiegelt.
“Vor zwölf Jahren warst du schwanger. Und ich habe dich wie ein Feigling verlassen.”
„Die Kleinen sind nicht deine“, murmelte Gabriela, und endlich flossen Tränen. „Sie sind fünf und drei Jahre alt. Das weißt du doch.“
„Ich weiß, dass sie nicht meine sind“, erwiderte er mit zitternder Stimme. Der Schmerz, den er ein Jahrzehnt lang mit sich herumgetragen hatte, drohte ihn zu überwältigen. „Aber ich weiß auch, dass du unser Baby verloren hast. Allein. Im Krankenhaus. Eine Woche, nachdem ich gegangen war.“
Die Stille, die folgte, wurde nur von Gabrielas unterdrücktem Schluchzen unterbrochen, einem Schluchzen, das von einem zu tiefen Kummer zeugte, um ihn laut auszusprechen. Die Nachbarn, erst vom Lärm, dann von dem stillen Drama angelockt, erschienen an den Fenstern und vor den Haustüren und flüsterten über das Geschehen auf der Straße.
„Wie … wie hast du das herausgefunden?“, fragte Gabriela und setzte sich völlig erschöpft neben ihn auf die Trümmer.
„Doña Carmen. Die Krankenschwester, die Sie im Krankenhaus in Sevilla behandelt hat. Sie ist immer noch dort, sehr krank. Sie hat letzte Woche nach mir gesucht.“ Eduardo wischte sich mit dem Handrücken über die Augen, eine grobe Geste, die so gar nicht zu seiner Kleidung passte. „Sie hat mir erzählt, dass Sie während der Frühgeburt meinen Namen gerufen haben. Dass Sie darum gebeten haben, mich anzurufen, aber Ihr Telefon nicht mehr funktionierte. Ich hatte meine Nummer gewechselt.“
Die Ältere der beiden, mit braunem Haar und einem wachen, neugierigen Blick, näherte sich und überwand ihre Angst. „Mama, warum weinst du?“, fragte sie leise.
Gabriela umarmte ihre Töchter fest, als wolle sie sie vor einer Vergangenheit beschützen, die nur Erwachsenen gehörte. „Es ist kompliziert, Liebling. Dieser Mann … kannte Mama vor langer Zeit.“
Eduardo beobachtete die beiden kleinen Mädchen. Die jüngere, blond mit blauen Augen, ähnelte Gabriela als Kind. Die ältere hatte ernstere Gesichtszüge, schenkte ihm aber ein schüchternes Lächeln.
„Haben Sie Kinder?“, fragte die große Frau.
„Nein“, antwortete Eduardo, und das Wort verletzte ihn mehr, als er gedacht hätte. „Ich habe noch nie einen gehabt.“
” Warum nicht ? ”
Er sah Gabriela an, bevor er antwortete, und bemerkte, dass auch sie trotz allem auf seine Antwort wartete. „Denn die einzige Frau, die ich mir als Mutter meiner Kinder gewünscht habe … ich habe sie zu sehr verletzt. Und als ich meinen Fehler erkannte, war es bereits zu spät.“
Gabriela sprang auf und schüttelte den Staub von ihren Kleidern. Ihr Stolz kehrte wie ein Schutzschild zurück. „Es ist noch nicht zu spät. Du hast dein Leben aufgebaut. Du bist in Madrid reich geworden, du hast alles, was du dir gewünscht hast. Du brauchst nicht hierherzukommen und so zu tun, als ob dich das, was mir passiert ist, kümmern würde.“
„Du tust nur so!“, rief Eduardo und richtete sich auf; zum ersten Mal donnerte seine Stimme, schwer von zwölf Jahren Frustration. „Glaubst du, ich hätte dich vergessen? Glaubst du, es ist auch nur ein einziger Tag vergangen, an dem ich nicht an dich gedacht habe?“
„Warum hat es zwölf Jahre gedauert, bis Sie zurückgekommen sind?“
Die Frage blieb unbeantwortet, so schwer wie der Geruch feuchter Erde in der Luft. Dunkle Wolken zogen auf und drohten, den Sturm, den sie in sich trugen, zu entfesseln.
Eduardo knöpfte seine Jacke auf und warf sie auf den Sitz seines Wagens. In seinem weißen Hemd krempelte er die Ärmel hoch und nahm den Hammer wieder zur Hand.
„Weil ich ein stolzer Idiot war“, sagte er leiser. „Ein Idiot, der dachte, es wäre besser für dich ohne mich.“
Er begann von neuem, diesmal jedoch vorsichtig, und entfernte nur die wirklich gefährlichen Teile der Mauer, die über dem Eingang hingen.
„Und weil du, als ich endlich den Mut fand, zurückzukommen, schon mit jemand anderem zusammen warst.“
Gabriela erstarrte. Die kleinen Mädchen begriffen, dass etwas Wichtiges gesagt wurde.
“Hast du mich ausspioniert?”
„Spionieren? Nein. Aber ich war ein paar Mal wieder im Dorf. Vor etwa sechs Jahren. Ich habe dich im Park gesehen, auf dem Markt. Ich habe ihn mit ihnen spielen sehen.“ Eduardo arbeitete weiter, der Rhythmus seiner Striche unterstrich seine Worte. „Du wirktest glücklich. Ich dachte, es wäre am besten, alles so zu lassen, wie es war. Ich hatte kein Recht, das zu zerstören.“
„Und wo ist er jetzt?“, fragte Eduardo und stellte damit endlich die Frage, die ihn so sehr beschäftigte und auf die Doña Carmen keine Antwort hatte geben können.
Die älteste Tochter, die sich als Valeria vorgestellt hatte, antwortete vor ihrer Mutter: „Papa ist schon vor langer Zeit weggegangen. Er sagte, er würde in Barcelona Arbeit suchen, aber er ist nie zurückgekommen.“
“Valeria! Geh und spiel darin mit Isabel”, bat Gabriela müde.
„Aber es gibt kein ‚drinnen‘, Mama“, erwiderte das kleine Mädchen mit bestechender Logik. „Weißt du noch, dass das Haus kaputt ist?“
Eduardo blieb stehen. Der Hammer glitt ihm aus den Händen. Er sah sich um und erkannte zum ersten Mal den wahren Zustand des Hauses. Das Innere. Es gab keine Wände mehr, nur noch verrottete Holzkonstruktionen. Das restliche Dach war mit einer undichten Plane bedeckt, von der schmutziges Wasser tropfte.
In dem Raum, der einst das Wohnzimmer gewesen war – wo sie davon geträumt hatten, eine Familie zu gründen – befanden sich nur noch eine alte Matratze auf dem Boden, ein paar gestapelte Pappkartons und ein kleiner Campingkocher.
“Mein Gott, Gabriela… wie kannst du hier leben?”
„So gut ich konnte“, erwiderte sie mit erhobenem Kinn, ihren Stolz ungebrochen, so wie er sie kannte. „Ich habe nie um Hilfe gebeten. Ich habe mich nie gedemütigt.“
„Das ist keine Selbsterniedrigung, Gabriela. Es ist … Überleben.“ Er holte sein Smartphone der neuesten Generation heraus und begann zu komponieren.
” Was machst du ? ”
„Ich rufe einen Freund an, der ein Bauunternehmen in Sevilla besitzt. Wir fangen heute an.“
Gabriela eilte herbei und riss ihm das Telefon aus der Hand. „Ich will dein Mitleid nicht, Eduardo! Uns geht es bestens!“
„Sehr gut?!“ Er deutete auf die zerrissene Plane. „Eure Töchter schlafen hier, wenn es regnet!“
„Sie schlafen bei meiner Mutter, ein paar Häuser weiter“, schrie sie und reichte ihm wütend das Telefon. „Wir werden schon eine Lösung finden.“
Er starrte sie an. „Und du? Wo schläfst du, wenn es regnet?“
Sie antwortete nicht, aber an ihrem abgewandten Blick erkannte er es. Sie blieb dort, um ihre wenigen Habseligkeiten zu schützen.
Die kleinen Mädchen kamen aufgeregt zurückgelaufen. „Mama, Oma Guadalupe kommt!“, rief Isabel, die Jüngste.
Eduardo sah eine grauhaarige Frau mit festem Schritt die Straße entlanggehen, sie wirkte unfreundlich. Sie hielt einen Besen in der Hand, als wolle sie die Stadt vertreiben, und hatte den Gesichtsausdruck, den er nur allzu gut kannte: genau den gleichen wie Gabriela, wenn sie wütend war.
“Hallo, Doña Guadalupe”, sagte er und versuchte zu lächeln.
„Eduardo Ramírez“, erwiderte sie ohne jede Spur von Mitgefühl. „Ich dachte, es sei nur ein Gerücht. Der Geist von Madrid ist zurückgekehrt.“
“Das stimmt, Doña Guadalupe. Ich bin zurück.”
»Wozu zurückkommen? Um auch noch das zu zerstören, was meiner Tochter noch geblieben ist?« Die kleinen Mädchen klammerten sich an ihre Großmutter, die sie fest umarmte.
„Ich bin zurückgekommen, um die Dinge in Ordnung zu bringen“, sagte Eduardo.
„Mit einem Hammer reparieren?“ Sie deutete auf das Werkzeug. „Typisch Männer: Sie denken, rohe Gewalt löst alle Probleme.“
Gabriela schritt ein, bevor der Streit eskalierte. „Mama, er … er hat ein paar Papiere mitgebracht. Über … diese ganze Sache.“
Guadalupes Gesichtsausdruck veränderte sich augenblicklich. Wut wich einer alten Traurigkeit. Sie wusste genau, worum es ging. „Ah. Jetzt weißt du es also.“
„Wusstest du das schon immer?“, fragte Eduardo, und er spürte ein neues Schweregefühl im Magen.
„Natürlich“, antwortete sie mit zitternder Stimme. „Ich war es, die meine Tochter ins Krankenhaus fuhr, als sie zu bluten begann. Ich war es, die ihre Hand hielt, als die Ärzte sagten, sie könnten nichts mehr tun. Und ich war es, die in den folgenden Wochen an ihrer Seite blieb, als sie im Schlaf weinte und deinen Namen rief.“
Eduardo steckte es wie einen Schlag ein. Er setzte sich auf ein Stück der eingestürzten Mauer und vergrub das Gesicht in den Händen. „Ich wusste es nicht“, murmelte er. „Ich schwöre bei Gott, ich wusste es nicht.“
„Du wusstest es nicht, weil du es nicht wissen wolltest“, beteuerte Guadalupe. „Meine Tochter hat dich in dieser Woche fünfzehn Mal angerufen. Fünfzehn Mal! Du bist nicht rangegangen.“
„Ich hatte meine Nummer geändert, Doña Guadalupe. Ich hatte diesen Job in Madrid bekommen und…“
„Und Sie dachten, es sei das Beste, alle Verbindungen abzubrechen, nicht wahr? Neu anzufangen. Die Vergangenheit hinter sich zu lassen“, schloss sie.
Gabriela sprach zum ersten Mal seit mehreren Minuten, ihre Stimme leise und scharf: „Erinnerst du dich, was du mir bei unserem letzten Streit gesagt hast? Dass ich eine Last sei. Dass ich dich zurückhalte. Dass du mit mir an deiner Seite hier niemals Erfolg haben würdest.“
Seine Worte trafen ihn wie ein Schlag. Eduardo erinnerte sich genau an jene schreckliche Nacht, an all die grausamen Dinge, die er im Schock über das Jobangebot und in seiner Angst herausgespuckt hatte.
„Ich war jung, Gabriela. Eine stolze Närrin, die…“
„…der ein Feigling war“, unterbrach Guadalupe ihn. „Und das bist du immer noch, wie ich sehe. Du kommst nach zwölf Jahren mit Geld zurück und glaubst, du könntest dir Vergebung erkaufen.“
Valeria, still, aber aufmerksam, näherte sich Eduardo, der noch immer auf den Trümmern saß. „Du bist der Mann auf den Fotos, die Mama versteckt.“
Es trat Stille ein. Gabriela errötete vor Scham.
„Welche Fotos, Valeria?“, fragte Guadalupe überrascht.
„Die, die Mama nachts weinend anschaut. Sie liegen in einer kleinen Holzkiste unter dem Bett. Da sind auch Papiere, alte Briefe.“
„Valeria!“, knurrte Gabriela.
“Das ist die Wahrheit, Mama. Du weinst immer, wenn du sie ansiehst.”
Eduardos Herz raste. Trotz der Jahre, trotz Alejandro, trotz der Armut… sie hatte ihre Fotos aufbewahrt.
„Das bedeutet gar nichts“, fügte Gabriela schnell hinzu. „Es sind nur Erinnerungen. Jeder hat Erinnerungen.“
„Erinnerungen woran?“, fragte Isabel unschuldig.
Gabriela blickte Eduardo an und dann ihre Mutter, unfähig, dies einem dreijährigen Kind zu erklären.
„Erinnerungen aus einer Zeit, als Mama jünger war“, erwiderte Eduardo leise und stand auf. „Und als sie einen nicht gerade intelligenten Jungen kennenlernte.“
„Warst du der Freund meiner Mutter?“, fragte Valeria direkt.
„Mehr noch“, erwiderte Guadalupe, bevor man sie aufhalten konnte. „Sie waren verheiratet.“
“Verheiratet?!”, riefen die beiden kleinen Mädchen gleichzeitig.
“Mama!”, protestierte Gabriela.
„Was? Sie haben das Recht zu erfahren, wer dieser Mann ist, der kam und ihr Haus abgerissen hat.“
Eduardo hockte sich zu den Mädchen hinunter. „Vor langer Zeit war ich mit eurer Mutter verheiratet. Aber wir hatten einen Streit, und ich habe einige sehr schlimme Dinge getan. Deshalb spricht sie nicht gern darüber.“
„Und warum habt ihr beiden gestritten?“, fragte Valeria.
„Weil ich dachte, ich wüsste alles. Ich habe ihr nicht zugehört. Und als sie mich am meisten brauchte, war ich nicht da.“
Isabel verstand nicht alles, aber Valeria, die größer war, schien nachzudenken. „Und nun … wirst du wieder heiraten?“
„Nein, meine Tochter“, antwortete Gabriela sofort. „Menschen werden erwachsen und gehen unterschiedliche Wege.“
„Aber ihr liebt euch trotzdem“, beharrte Valeria.
Die Frage blieb unbeantwortet. Niemand antwortete. Doch die Tränen in Gabrielas Augen und Eduardos Blick sprachen Bände.
Der Regen, der schon länger angedroht hatte, setzte ein. Erst nur ein paar Tropfen, dann immer stärker. Innerhalb weniger Minuten schüttete es wie aus Eimern; das Wasser prasselte auf die zerrissene Plane und verwandelte den Staub in Schlamm.
„Wir fahren zu Oma!“, sagte Gabriela und versammelte die Mädchen.
„Und er?“, fragte Valeria und zeigte auf Eduardo.
„Er hat ein Auto, er kann Unterschlupf suchen“, erwiderte Gabriela und zog sie in Richtung Straße.
Als sie gingen, sahen sie jedoch, dass Eduardo nicht zu seinem Auto ging. Er hatte sich an die Hauswand gelehnt, unter die am stärksten zerrissene Stelle der Plane, und war von den Trümmern durchnässt worden. Wasser rann ihm über die Haare und durchnässte sein weißes Hemd.
“Eduardo! Du kriegst noch eine Lungenentzündung!”, rief Guadalupe aus der Ecke.
„Schon gut!“, antwortete er. „Ich hab’s verdient.“
Gabriela blieb im Regen stehen und blickte auf den Mann, der ihr alles bedeutet hatte. Er war da, sein Anzug ruiniert, seine Lackschuhe im Schlamm, stur wie immer.
„Komm mit uns“, sagte sie mit leiser Stimme.
„Das ist nicht notwendig.“
„Ich bitte dich nicht. Ich befehle es dir. Komm.“
Sie rannten im strömenden Regen die Straße zurück. Guadalupes Haus war einfach, aber sauber und warm. Es roch nach Kaffee und Weichspüler. Es gab ein kleines Wohnzimmer, eine Küche und zwei Schlafzimmer. Die Wände waren mit Fotos der kleinen Mädchen bedeckt. Eduardo bemerkte, dass keines von Gabriela aus den letzten zwölf Jahren dabei war.
„Zieht die nassen Kleider aus“, befahl Guadalupe. „Ich werde sehen, ob ich etwas von Antonio, Gott hab ihn selig, habe, das euch passen würde.“
Sie kam mit einem karierten Hemd und einer Jogginghose zurück. „Es gehörte meinem Mann. Es sollte Ihnen passen.“
Eduardo zog sich im Badezimmer um. Die Kleidung war etwas zu groß, aber trocken und sauber. Als er zurückkam, kochte Gabriela gerade Kaffee, und die Mädchen spielten im Wohnzimmer mit Stoffpuppen.
“Vielen Dank, Doña Guadalupe.”
„Bedank dich nicht zu früh. Ich will nicht, dass du vor meiner Tür an einer Lungenentzündung stirbst; das würde nur unnötigen Papierkram verursachen.“ Trotz allem lächelte Eduardo. Guadalupe war schon immer so direkt gewesen.
„Gabriela hat mir von Ihrer Firma erzählt“, sagte Guadalupe und schenkte Kaffee ein. „Man sagt, Sie hätten Ihr Vermögen in Madrid gemacht.“
„Ja, das ist mir gelungen.“
„Und wie wird ein einfacher Maurer zu einem wohlhabenden Unternehmer?“
Eduardo sah Gabriela an, die so tat, als konzentriere sie sich auf ihren Zucker. „Erinnerst du dich an die App, die Gabriela mir vorgeschlagen hat zu entwickeln? Um Maurer und kleine Renovierungsfirmen mit Kunden zu verbinden?“
Gabriela hörte auf, mit ihrem Löffel zu rühren, und starrte ihn an.
„Die, die du als dumm bezeichnet hast? Die, bei der du telefonisch gefragt hast, wer einen Maurer beauftragen würde?“, sagte sie.
„Dasselbe.“ Eduardo senkte beschämt den Kopf. „Drei Jahre nach unserer Trennung habe ich es entwickelt. Heute hat es über zwei Millionen Nutzer in Spanien.“
Eine bedrückende Stille senkte sich über die Küche. Guadalupe blickte von einem zum anderen und begriff, dass sich dahinter eine Geschichte verbarg.
„Stammte die Idee von ihr?“, fragte sie.
„Absolut. Sie hatte an alles gedacht, bis hin zum Namen: ‚ConectaObra‘. Ich war zu stolz, um zuzugeben, dass sie Recht hatte.“
Gabriela stand abrupt auf. „Ich gehe zu den Mädchen.“ Sie ging und ließ Eduardo allein mit Guadalupe zurück, deren durchdringender Blick ihn unentwegt musterte.
“Warum bist du wirklich gekommen, Eduardo?”
„Um Vergebung bitten.“
“Und du glaubst, du wirst es schaffen?”
„Ich weiß es nicht. Aber ich muss es versuchen.“
„Meine Tochter hat sehr unter dir gelitten. Nach eurer Trennung hat sie monatelang geweint. Als sie das Baby verlor … verfiel sie in eine tiefe Traurigkeit, von der ich dachte, sie würde sich nie erholen.“ Guadalupe seufzte. „Als Alejandro in ihr Leben trat, dachte ich, sie wäre endlich glücklich. Und das war sie auch … für eine Weile.“
„Er schien ein guter Mann zu sein“, sagte Eduardo.
„Er war es. Freundlich, fleißig. Er liebte Mädchen wie seine eigene Tochter. Aber er hat Gabrielas Herz nie ganz erobert. Ein Teil davon gehörte immer dir.“
Eduardo spürte, wie sich seine Brust zuschnürte.
Was ist aus ihm geworden?
„Er hat ein Angebot aus Barcelona bekommen. Ein dreimal höheres Gehalt. Er hat sie gebeten, mit ihm zu kommen und die Mädchen mitzunehmen. Sie hat abgelehnt.“
” Wofür ? ”
„Weil dieses Dorf Erinnerungen birgt. Es hält dich fest. Sie wusste nie wirklich, wie sie gehen sollte.“ Guadalupe nahm einen Schluck. „Alejandro erkannte, dass er gegen einen Geist kämpfte, und gab auf. Er ging allein. Seitdem zieht sie ihre Töchter allein groß.“
„Nicht allein: Sie hat dich“, sagte Eduardo.
„Ja, das hat sie. Aber ohne einen Mann und ohne die Hilfe anderer anzunehmen. Stolz wie ihr Vater. Und wie du.“
Aus dem Wohnzimmer hörten sie Gabrielas Stimme, wie sie mit ihren Töchtern spielte und lustige Geräusche für die Puppen machte. Ein Geräusch, das Eduardo seit zwölf Jahren nicht mehr gehört hatte, und es schmerzte ihn sehr.
„Sie trägt den Ring immer noch“, bemerkte er, als er sich daran erinnerte, ihn an ihrer Hand gesehen zu haben.
„Das ist nicht der Ehering. Das ist der silberne Verlobungsring, den Sie ihr damals geschenkt haben. Sie hat ihn nie abgenommen.“
Eduardo schloss die Augen und ließ den Tag Revue passieren, an dem er das schlichte Schmuckstück an einem Kunsthandwerkerstand gekauft hatte. Sie waren neunzehn Jahre alt; er hatte drei Monate lang gespart.
“Doña Guadalupe, darf ich Sie etwas fragen?”
“Fortfahren.”
“Glaubst du, es besteht irgendeine Chance, dass sie mir verzeiht?”
Guadalupe starrte ihn lange an. „Sie hat dir schon längst vergeben, Eduardo. Das Problem ist nur, dass sie sich selbst noch nicht vergeben hat.“
” Wie so ? ”
„Meine Tochter trägt die Schuldgefühle mit sich herum, dich gehen gelassen zu haben. Sie glaubt, wenn sie dir früher von der Schwangerschaft erzählt hätte, wärst du geblieben. Und sie denkt, der Verlust des Babys sei ihre Schuld, weil sie zu nervös und traurig war.“
„Aber das stimmt nicht! Ich bin es, der gegangen ist!“
„Ich weiß es. Du weißt es. Sie nicht. Solange sie sich selbst nicht verzeiht, wird sie die Vorstellung nicht akzeptieren, dass sie es verdient, glücklich zu sein.“
In diesem Moment erschien Valeria in der Küchentür. „Oma, Mama weint.“
Guadalupe und Eduardo standen gemeinsam auf. Sie gingen ins Wohnzimmer und fanden Gabriela auf dem Boden sitzend vor, die Isabel umarmte, welche sich mit ihrer kleinen Hand die Tränen abwischte.
„Mama, warum bist du traurig?“, fragte Isabel.
„Ich bin nicht traurig, mein Schatz. Manchmal weinen Erwachsene, wenn sie sich an wichtige Dinge erinnern.“
Eduardo kam näher und setzte sich neben sie. Er trug die geliehenen, viel zu großen Kleider. „Gabriela, ich muss dir etwas sagen.“
Sie sah ihn an, ihre Augen waren rot. „Was?“
„Ich habe nie wieder geheiratet. Ich habe keine weiteren Kinder bekommen. Ich konnte nach dir nicht mehr lieben.“
“Eduardo…”
„Lass mich ausreden. All die Jahre dachte ich, ich würde leben, meine Träume verwirklichen, aber alles, was ich erreicht habe, schmeckte nach Misserfolg, weil du nicht da warst, um es mit mir zu teilen.“
Valeria saß auf der anderen Seite ihrer Mutter und hörte aufmerksam zu.
„Weißt du, was noch schlimmer ist?“, fuhr Eduardo fort. „Zu wissen, dass ich alles, was ich erreicht habe, deiner Idee zu verdanken habe. Jeder Kunde, jeder Vertrag, jede Auszeichnung … hat mich daran erinnert, dass ich zu dumm war, deine Intelligenz zu erkennen, als wir zusammen waren.“
„Warum erzählst du mir das alles jetzt?“, fragte Gabriela.
„Damit du weißt, dass ich mich weiterentwickelt habe. Dass ich weiß, wann ich falsch liege. Und dass die wichtigste Lektion meines Lebens der Verlust von dir war.“
Isabel, die zwar nicht alles verstand, aber die Bedeutung des Augenblicks spürte, nahm Eduardos Hand und die Hand seiner Mutter und setzte sich zu ihnen auf den Teppich.
“Na also. Jetzt seid ihr Freunde.”
Alle brachen in Lachen aus, vermischt mit Tränen. Die Unschuld des kleinen Mädchens löste die Anspannung.
„Ist das die Art, wie wir Frieden schließen?“, fragte Eduardo.
„Das hat mir meine Lehrerin beigebracht. Wenn zwei Menschen streiten, sollten sie Händchen halten und sich entschuldigen.“
“Und funktioniert es?”
„Es funktioniert immer“, antwortete Isabel mit der Gewissheit ihrer drei Jahre.
Gabriela betrachtete die Hände ihrer Tochter, die noch immer gefesselt waren, und erlaubte sich für einen Moment, sich daran zu erinnern, wie diese großen, schwieligen Hände zu ihren eigenen passten.
„Isabel, geh und spiel mit Valeria“, sagte sie leise.
„Aber ich möchte, dass ihr Frieden schließt.“
„Wir werden es tun, mein Engel, aber das ist ein Gespräch für Erwachsene.“ Guadalupe führte die Mädchen ins Schlafzimmer und ließ Eduardo und Gabriela allein.
“Gabriela, ich…”, begann er.
„Nein“, unterbrach sie ihn. „Jetzt bin ich an der Reihe.“ Sie stand auf, ging zum Fenster und beobachtete den immer noch fallenden Regen. „In einem Punkt hast du recht. Ich habe dir nicht rechtzeitig von der Schwangerschaft erzählt. Ich hatte Angst. Angst, dass du denken würdest, es sei eine Falle, damit du nicht zurückkommst.“
“Das hätte ich nie gedacht.”
“Ja. Das hätte man meinen können. Du warst voll und ganz auf diesen Job in Madrid konzentriert. Du hast jeden Tag gesagt, dass es deine Chance sei, zu beweisen, was du kannst. Ich wollte nicht das Hindernis sein, das dich am Weiterkommen hindert.”
Eduardo näherte sich ihr, ohne sie zu berühren.
„Als ich erfuhr, dass ich schwanger war, warst du schon anders. Distanzierter, ungeduldiger. Du hast über die Zukunft gesprochen, als ob ich kein Teil davon wäre.“
“Ich war wegen des neuen Jobs nervös. Das hatte nichts mit Ihnen persönlich zu tun.”
„Natürlich habe ich das, Eduardo. Du hast mich als Hindernis gesehen. Als ob mein einfaches Dorfleben nicht zu deinen großen Plänen gepasst hätte.“ Seine Worte trafen ihn wie ein Schlag. Eduardo wusste, dass sie stimmten, trotz des Schmerzes.
„Als du gegangen bist, habe ich versucht, es dir telefonisch zu sagen. Ich habe innerhalb von drei Tagen fünfzehn Mal angerufen. Du bist nie rangegangen.“
“Ich hatte meine Nummer geändert…”
„Jetzt weiß ich es. Damals dachte ich, du würdest mich absichtlich ignorieren. Dass du beschlossen hattest, den Kontakt abzubrechen.“ Gabriela wandte den Blick ab; in ihren Augen spiegelten sich zwölf Jahre Schmerz. „Am vierten Tag fing ich an zu bluten. Mama brachte mich ins Krankenhaus. Die Ärzte sagten, ich würde das Baby verlieren.“
„Gabriela…“ Er wollte sie berühren; sie wich zurück.
„Weißt du, was am schlimmsten war? Nicht der Schmerz. Es war, dort allein zu sein und das Kind des Mannes zu verlieren, den ich liebte, ohne mit ihm sprechen zu können. Es war, mitten in den Wehen deinen Namen zu schreien und nur meine Mutter zu haben, die meine Hand hielt.“
Eduardos Tränen flossen unkontrolliert. In zwölf Jahren hatte er sich tausend Szenarien ausgemalt, aber nie die Details.
„Es tut mir so leid. Gabriela, wirklich.“
„Es tut mir auch leid. Es tut mir leid, dass ich nicht darauf bestanden habe. Es tut mir leid, dass ich mich von meinem Stolz leiten ließ. Es tut mir leid, dass ich dich kampflos gehen ließ.“
Sie blieben dort, in Guadalupes kleinem Wohnzimmer, und weinten zum ersten Mal seit zwölf Jahren gemeinsam. Um das verlorene Baby, um die vergeudete Zeit, um die unausgesprochenen Worte.
“Was sollen wir jetzt tun?”, fragte Eduardo mit heiserer Stimme.
„Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob wir nach all dem wieder zurückkönnen.“
„Ich spreche nicht davon, zurückzukehren. Ich spreche davon, neu anzufangen.“
„Eduardo, ich habe zwei Töchter. Sie sind meine Priorität. Ich kann es mir nicht leisten, noch einmal verletzt zu werden. Und ich kann es mir auch nicht leisten, dass ihnen etwas zustößt.“
“Wer hat gesagt, dass ich dir wehtun würde?”
“Du hast es bereits getan.”
„Ich war zweiundzwanzig. Ein ängstlicher Junge, unfähig, Verantwortung zu übernehmen. Heute bin ich vierunddreißig; ich habe gelernt, dass Erfolg wertlos ist, wenn man ihn mit niemandem teilen kann.“
Gabriela schüttelte den Kopf. „Es ist zu kompliziert.“
„Ich bitte dich nicht, mich morgen zu heiraten. Ich bitte dich um eine Chance. Um dir zu beweisen, dass ich der Mann sein kann, den du verdienst.“
Bevor sie antworten konnte, tauchte Valeria wieder auf. „Mama, es hat aufgehört zu regnen. Können wir nach Hause gehen?“
Gabriela blickte aus dem Fenster. Ja, der Regen hörte auf; die letzten Sonnenstrahlen drangen herein. „Okay, Liebling.“
„Und kommt er?“, fragte sie und zeigte auf Eduardo.
„Er muss nach Hause gehen“, antwortete Gabriela.
„Aber… was ist mit unserem Haus? Es ist völlig kaputt.“
Eduardo hockte sich zu Valeria hinunter. „Wenn deine Mutter einverstanden ist, kann ich helfen, das zu reparieren.“
” WAHR ? ”
„Stimmt. Aber nur, wenn deine Mutter es will.“
Valeria rannte zu Gabriela. „Mama, bitte lass ihn das Haus reparieren!“
“Valeria, so einfach ist das nicht.”
” Wofür ? ”
Gabriela seufzte. Wie sollte sie einem Fünfjährigen die Komplexität der Erwachsenenwelt erklären? „Denn … wenn ein Erwachsener einem anderen hilft, entstehen dadurch manchmal Verpflichtungen.“
„Welche Art von Verpflichtungen?“, fragte Eduardo und stand auf.
“Das wissen Sie ganz genau. Glauben Sie etwa, Sie können nach zwölf Jahren einfach auftauchen, ein neues Haus bauen und erwarten, dass ich Ihnen für den Rest meines Lebens etwas schulde?”
„Ich möchte nicht, dass du mir etwas schuldest. Ich möchte, dass du annimmst, was dir rechtmäßig zusteht.“
” Wie so ? ”
Eduardo ging zurück in die Küche und nahm den Pappordner, den er auf dem Tisch liegen gelassen hatte. Er holte einige Papiere heraus, die den Regen wie durch ein Wunder überstanden hatten: die Firmensatzung.
„Erinnern Sie sich an unser Unternehmen? ‚Construcciones Ramírez y Hernández‘?“
„Ich erinnere mich. Du hast es geschlossen, als du gegangen bist.“
„Ich habe nichts geschlossen. Ich bin in eine andere Stadt gezogen. Das Geschäft lief weiter. Es wuchs. Es wurde zu einer Unternehmensgruppe. Und Sie blieben zu 50 % Partner.“
Gabriela nahm die Papiere mit zitternder Hand entgegen. „Es ist … es ist unmöglich.“
„Das stimmt. Alles ist da. Zwölf Jahre angesammelte Gewinne auf einem Konto in Ihrem Namen.“
” Wie viel ? ”
Eduardo schrieb eine Zahl auf einen Zettel von Guadalupes Einkaufsliste und zeigte ihn ihr. Gabriela sank in einen Stuhl. Es waren sieben Nullen.
„Das ist ein Witz.“
„Nein. Es gehört dir. Das hat es schon immer.“
„Warum? Sie hätten die Verträge ändern können. Mich aus dem Unternehmen entfernen können.“
„Weil ich wusste, dass ich eines Tages zurückkehren würde. Und wenn ich zurückkehre, wollte ich, dass du das bekommst, was du verdienst. Die Idee stammte von dir.“
Guadalupe, die wieder in der Küche war, blickte über die Schulter ihrer Tochter. „Mein Gott, Gabriela. Du bist reich.“
„Ich will nichts davon“, sagte Gabriela und schob die Papiere beiseite. „Ich will das alles nicht.“
„Gabriela…“
“Weißt du warum? Weil es nicht mir gehört. Ich habe nicht dafür gearbeitet. Ich verdiene es nicht.”
„Natürlich tut es das!“, protestierte Eduardo. „Die Firma existiert dank Ihnen. Die App funktionierte, weil Sie an jedes Detail gedacht haben. Alles, was ich aufgebaut habe, basiert auf dem, was Sie mir beigebracht haben: Respekt vor den Kunden, Stolz auf eine gut gemachte Arbeit.“
„Unsinn, und das wissen Sie.“
„Das ist die Wahrheit, und das wissen Sie. Erinnern Sie sich? ‚Hören Sie auf, Kunden nur als Zahlen zu sehen; verstehen Sie ihre Geschichte, ihre wahren Bedürfnisse.‘ Das hat mein Unternehmen wachsen lassen.“
Gabriela schüttelte trotzig den Kopf. „Ich nehme dein Geld nicht an.“
„Dann nimm es nicht als mein Eigentum an. Nimm es als das Erbe unseres Kindes an.“
In der Küche herrschte absolute Stille. Selbst die Kinder im Schlafzimmer schienen es zu spüren.
“Wie kannst du so etwas sagen?”, flüsterte Gabriela.
„Denn es ist wahr. Wäre er geboren worden, wäre er heute fast zwölf Jahre alt. Und all das wäre auch seins.“ Eduardos Stimme zitterte. „Akzeptiere es. Für ihn. Für das Kind, das wir nie kennengelernt haben.“
Gabriela stand abrupt auf und verließ die Küche. Sie hörten, wie sie die Tür zuschlug.
„Hol sie dir!“, befahl Guadalupe.
“Ich denke, es ist am besten, sie in Ruhe zu lassen…”
„Holt sie euch!“, wiederholte Guadalupe eindringlicher. „Meine Tochter ist seit zwölf Jahren auf der Flucht. Lasst sie nicht wieder weglaufen!“
Eduardo fand Gabriela auf der kleinen Stufe sitzend vor, den Blick auf die nasse Straße gerichtet. Die Sonne ging unter und färbte die Wolken orange und violett. Wortlos setzte er sich neben sie.
„Dazu haben Sie kein Recht“, sagte sie, ohne ihn anzusehen. „Sie haben kein Recht, unser Kind zu benutzen, um mich zu überzeugen.“
“Stimmt. Das war untertrieben. Tut mir leid.”
Sie blieben noch ein paar Minuten und lauschten, wie die Nachbarschaft nach dem Regen wieder zum Leben erwachte.
„Eduardo, du musst das verstehen. Ich habe mir hier ein Leben aufgebaut. Nicht das, von dem ich geträumt habe, sondern mein eigenes. Meine Töchter haben ihren Platz, Freunde, die örtliche Schule. Ich kann das nicht einfach alles auslöschen und so tun, als hätte es diese zwölf Jahre nie gegeben.“
„Ich verlange nicht von Ihnen, dass Sie alles wegfegen.“
“Ja. Sie kommen mit Geld, versprechen, das Haus wieder aufzubauen, neu anzufangen. Glauben Sie, es ist einfach? Dass es nicht verlockend ist, ja zu sagen und so zu tun, als könnten wir wieder die werden, die wir einmal waren?”
„Warum so tun als ob?“
„Weil wir nicht mehr dieselben sind, Eduardo. Ich bin nicht mehr das zwanzigjährige Mädchen, das an Märchen glaubte. Ich bin eine zweiunddreißigjährige Frau, eine zweifache Mutter, die gelernt hat, sich nur noch auf sich selbst zu verlassen.“
„Und ich bin nicht mehr der Junge, der sich in allem sicher war. Ich bin ein Mann, der gelernt hat, dass Erfolg ohne Familie wertlos ist.“
„Familie“, sagte Gabriela und starrte ihn an. „Du willst eine fertige Familie? Du hattest es satt, allein in Madrid zu sein, und gehst jetzt zurück zu deiner Ex, die zwei hübsche Töchter hat?“
“Das ist es nicht.”
“Also, was ist es?”
„Das liegt daran, dass ich dich nie aufgehört habe zu lieben. Und die Wochen, die ich im Dorf verbracht habe, bevor ich mich traute zu kommen und dich aus der Ferne beobachtete, ließen mich verstehen, dass das, was ich ‚Erfolg‘ nannte, nur ein Weg war, die Leere zu füllen, die du hinterlassen hast.“
Valeria erschien in der Tür. „Mama, Oma sagt, das Essen wird kalt.“
“Wir kommen, Liebling.”
“Ist er mit uns zu Abend essen?”
Gabriela blickte Eduardo hin- und hergerissen an. „Er muss gehen, Valeria.“
“Warum? Oma hat für alle gekocht.”
„Weil er weit weg wohnt.“
“Wo?”
Eduardo antwortete, bevor sie es tat. „In Madrid, Valeria. Das ist sehr weit weg.“
“Reisest du heute schon wieder ab?”
„Das weiß ich noch nicht.“
„Hoffentlich nicht. Ich mag dich.“ Die Unschuld des Kindes rührte beide. Valeria ging nach Hause.
„Sie mögen dich“, bemerkte Gabriela.
„Sie sind wunderbar. Sie haben sie sehr gut erzogen.“
„Ich habe sie alleine großgezogen“, erinnerte sie sich.
“Ich weiß. Und Sie haben eine bewundernswerte Leistung erbracht.”
„Mach nicht alles kaputt“, flüsterte Gabriela. „Bitte. Gewinne nicht ihre Herzen, nur um sie danach zu verlassen. Das würden sie nicht verkraften.“
“Wer hat gesagt, dass ich gehen würde?”
„Du wirst gehen. Du gehst immer. Es liegt in deiner Natur.“
„Gabriela, ich möchte bleiben.“
„Bleiben? Wie lange? Eine Woche? Einen Monat? Bis dich das Dorfleben langweilt und Madrid dich zurückruft?“
„Ich möchte für immer bleiben.“ Die Worte kamen ihm über die Lippen, bevor er nachdenken konnte, aber er wusste sofort, dass es wahr war.
„Für immer ist eine lange Zeit“, sagte Gabriela.
“Nicht genug.”
Guadalupe erschien in der Tür: „Wollt ihr die ganze Nacht draußen bleiben? Das Essen wird kalt!“
Sie gingen zum Abendessen hinein. Der Tisch war für fünf Personen gedeckt: Guadalupe, Gabriela, die beiden Mädchen und Eduardo. Zum ersten Mal seit zwölf Jahren saß er wieder bei einer Familienmahlzeit. Während des Essens stellten die Mädchen tausend Fragen. Madrid, das Haus, das Auto … Eduardo antwortete geduldig und achtete darauf, nicht prahlerisch zu wirken.
„Gefällt es dir, allein zu leben?“, fragte Valeria.
“Nein, überhaupt nicht.”
„Warum heiratest du nicht wieder?“, platzte Valeria heraus.
„Valeria!“, knurrte Gabriela.
„Nur aus Neugier, Mama.“
Eduardo lächelte. „Weil die einzige Person, die ich heiraten wollte, bereits meine Frau war. Und ich habe alles vermasselt.“
„Aber… du kannst doch wieder heiraten!“, schlug Isabel naiv vor.
„So funktioniert das nicht“, erklärte Gabriela.
“Warum nicht?” Einfache Frage; niemand hatte eine überzeugende Antwort.
Nach dem Abendessen half Eduardo Guadalupe beim Abwasch, während Gabriela die Mädchen badete.
„Sie hat Angst“, sagte Guadalupe mit leiser Stimme.
” Ich weiß. ”
„Nicht von dir. Von ihr selbst. Sie hat Angst, es zu glauben und enttäuscht zu werden.“
“Was kann ich tun, um zu beweisen, dass ich mich verändert habe?”
„Zeit. Geduld. Und vor allem der Beweis. Dass du nicht beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten die Flucht ergreifst.“
„Welche Beweise?“
„Bleib. Wenigstens für eine Weile. Zeig ihnen, dass du wirklich ein Teil ihres Lebens sein willst.“
„Glaubst du, sie wird es zulassen?“
„Sie wünscht es sich sehnlichst. Sie wird es aber niemals zugeben.“
Als Gabriela mit den Mädchen in ihren Pyjamas zurückkam, räumte Eduardo gerade das letzte Geschirr weg.
“Mama, darf ich eine Frage stellen?”, sagte Valeria.
” Ja. ”
“Wenn ihr euch liebt, warum seid ihr dann nicht zusammen?”
Gabriela seufzte. Die zweite schwierige Frage. „Denn manchmal reicht Liebe allein nicht aus. Menschen werden erwachsen, verändern sich, gehen unterschiedliche Wege.“
„Aber hier seid ihr auf dem gleichen Weg“, bemerkte Valeria logisch.
„So einfach ist das nicht.“
” Wofür ? ”
Gabriela blickte Eduardo an, der ihr folgte, ohne einzugreifen. „Denn wenn man schwer verletzt wurde, ist es schwer, wieder Vertrauen zu fassen.“
„Aber du kannst es versuchen“, beharrte Valeria.
„Isabel, geh Zähne putzen“, unterbrach Gabriela sie.
„Darf ich ihm auch die Zähne putzen?“, fragte Isabel und zeigte auf Eduardo. Alle lachten.
„Er weiß, wie man sich die Zähne putzt“, antwortete Gabriela.
„Aber ich möchte helfen!“
„Danke, Isabel“, sagte Eduardo. „Aber ich schlafe nicht hier. Ich gehe in ein Hotel.“
„Warum schläfst du nicht hier?“, fragte Valeria. „Oma hat ein Schlafsofa.“
„Weil er seine Sachen im Hotel hat“, antwortete Gabriela zu schnell.
“Welche Sachen? Kleidung, eine Bürste…”
„Oma kann ihm eine Bürste leihen!“, schlug Isabel vor.
Eduardo blickte Gabriela an und wartete auf ihr Urteil.
„Geht in ein Hotel, das ist besser“, sagte sie. „Die Mädchen müssen morgen früh aufstehen.“
“Mama, morgen ist Samstag!”, rief Valeria aus.
Gabriela errötete, ertappt bei einer kleinen Notlüge. „Trotzdem. Er sollte besser gehen.“
„Okay“, sagte Eduardo. „Ich gehe dann mal.“ Er küsste die Mädchen, die ihn fest umarmten. An der Tür begleitete Gabriela ihn hinaus.
“Eduardo.”
” Ja ? ”
“Vielen Dank. Dass Sie zurückgekommen sind. Dass Sie mir von Doña Carmen erzählt haben. Ich musste das wissen… dass Sie nach mir gefragt hatten.”
“Vielen Dank fürs Zuhören.”
Sie standen da und wussten nicht, wie sie sich verabschieden sollten. Nicht länger Mann und Frau, aber auch keine Fremden mehr.
„Wie lange bleiben Sie in der Stadt?“, fragte sie.
“Es kommt darauf an.”
” Was ? ”
“Von Ihnen.”
„Eduardo, es ist kompliziert. Ich weiß, ich muss beweisen, dass ich es ernst meine. Aber ich weiß auch, dass ich nicht wieder gehen kann. Nicht dieses Mal.“
„Und Ihre Arbeit? Ihr Leben in Madrid?“
„Meine Firma hat fünfzehn Partner. Die kommen eine Zeit lang ohne mich aus. Und mein Leben in Madrid … das ist kein Leben. Es ist nur Überleben.“
Gabriela biss sich auf die Lippe – ein Zeichen von Nervosität. „Ich muss nachdenken.“
“Wie lange?”
„Ich weiß es nicht. Vielleicht immer.“
Eduardo lächelte traurig. „Dann sollte ich mich wohl besser nach einer Wohnung umsehen.“
Er ging und ließ Gabriela auf der Türschwelle zurück, die dem Wagen nachsah, wie er hinter der Kurve verschwand.
Am nächsten Morgen wurde Gabriela vom Lärm der Baumaschinen geweckt. Sie schaute aus dem Fenster: Ein Baustellenwagen stand vor dem abgerissenen Haus. Eduardo war dort, nicht mehr im Anzug, sondern in Jeans und Arbeitshemd, und leitete ein dreiköpfiges Maurerteam.
Sie kam im Schlafanzug die Treppe herunter. „Was machst du denn da?“
„Hallo auch“, erwiderte er lächelnd.
„Ich habe das nicht autorisiert.“
„Ich weiß. Aber das Haus war gefährlich. Wenn es eingestürzt wäre und jemanden verletzt hätte, würde ich mir das nie verzeihen.“
“Eduardo, ich habe gesagt, dass ich keine Almosen will.”
„Und ich engagiere mich nicht ehrenamtlich. Ich arbeite im Bereich der öffentlichen Sicherheit. Und dann renoviere ich den Teil des Grundstücks, der mir als Partner gehört.“
“Partner?”
„Ramírez y Hernández“, sagte er und deutete auf ein improvisiertes Schild. „50 % du, 50 % ich.“
Ein Arbeiter kam näher: „Chef, wir haben das hier gefunden“, sagte er und hielt eine kleine Holzkiste hoch.
Gabriela erkannte sie: die Schachtel, in der sie die alten Fotos, Eduardos Briefe und ein paar Souvenirs aufbewahrte.
„Sie lag unter den Trümmern des Zimmers“, erklärte der Maurer.
Eduardo nahm die Schachtel und gab sie Gabriela. „Deine Tochter hatte Recht. Du hast die Fotos wirklich aufgehoben.“
Gabriela drückte die Schachtel an ihre Brust. „Es ist einfach nur Nostalgie.“
„Nostalgie bedeutet, Fotos aufzubewahren. Liebe bedeutet, sie nach zwölf Jahren nicht wegwerfen zu können.“
Die kleinen Mädchen kamen hereinstürmt, begeistert von dem Lärm. „Papa! – äh nein … Onkel Eduardo! Wirst du unser Haus wieder aufbauen?“, fragte Valeria.
“Wenn deine Mutter einverstanden ist”, antwortete Eduardo.
“Sag ja, Mama, bitte!”, flehte Isabel.
„So einfach ist das nicht“, wiederholte Gabriela.
„Warum?“, fragte Valeria. „Das Haus ist kaputt. Er will es reparieren. Was ist das Problem?“
Gabriela blickte ihre Töchter, Eduardo und die Maurer an, die auf ihre Antwort warteten.
„Okay“, sagte sie schließlich. „Aber ich bezahle.“
„Womit?“, fragte Eduardo leise.
„Mit dem, von dem du sagst, er gehöre mir.“
“Du akzeptierst es also?”
Gabriela zögerte. „Ich nehme einen Teil davon an. Genug, um das Haus zu renovieren. Der Rest ist für die Mädchen, für ihr Studium.“
„Okay. Was immer du willst.“
Die Maurer gingen wieder an die Arbeit, und Eduardo trat näher. „Darf ich Sie etwas fragen?“
“Es kommt darauf an.”
„Lassen Sie mich helfen. Nicht als Chef. Als Maurer. Wirklich. Ich habe das Handwerk von meinem Vater gelernt, erinnern Sie sich? Ich vermisse die Arbeit mit meinen Händen.“
Gabriela beobachtete ihn. Er wirkte aufrichtig. Der Mann, der ein multinationales Unternehmen in Madrid leitete, bat sie um Erlaubnis, Ziegelsteine zu verlegen.
“Wie lange?”
„So viel wie nötig.“
„Und dann…“
„Das werden wir danach sehen.“ Eine vage Antwort, aber aus unerfindlichen Gründen akzeptierte Gabriela sie.
In den folgenden Wochen kam Eduardo jeden Morgen und arbeitete bis zum Abend. Er tauschte seine teuren Hemden gegen ein T-Shirt und schwitzte unter der andalusischen Sonne. Nach und nach gewann er das Vertrauen der Mädchen, und sie begannen, ihn wie ein Familienmitglied zu behandeln.
Valeria hing besonders an ihm. Jeden Tag fragte sie ihn, ob er gehen würde; jeden Tag sagte er nein. Isabel, die extrovertierteste von ihnen, nannte ihn bald „Papa Eduardo“.
“Warum kann er nicht Vater sein?”, fragte Isabel eines Tages.
„Weil ich nicht dein Vater bin“, erklärte Eduardo. „Du hast ja schon einen.“
„Aber er ist nicht hier“, sagte Valeria pragmatisch. „Und du bist es.“
„Dazuzusitzen reicht nicht aus, um ein Vater zu sein. Vatersein ist mehr als das.“
„Was bedeutet es denn, Vater zu sein?“, fragte Valeria.
Eduardo legte seinen Hammer beiseite und setzte sich neben sie auf den Boden. „Es geht um Fürsorge, Schutz und Lernen. In wichtigen Momenten präsent zu sein. Zu lieben, ohne etwas im Gegenzug zu erwarten.“
„Du tust das alles“, bemerkte Isabel.
„Ich tue das, weil ich dich liebe. Aber ich bin nicht dein leiblicher Vater.“
“Und wenn Mama dich heiratet? Dann wirst du unser Vater?”, fragte Valeria.
Eduardo blickte Gabriela an, die die Trümmer zusammenkehrte und so tat, als höre sie nichts. „Wenn das jemals passieren würde … wäre ich ein Stiefvater. Eine Vaterfigur.“
“Worin besteht der Unterschied?”
„Ein Vater, der sein Herz für dich hat, entscheidet sich, dich zu lieben. Er liebt nicht aus Pflichtgefühl oder Blutsverwandtschaft, sondern weil er es will.“
„Also ist es besser als ein richtiger Vater?“, fragte Isabel.
„Weder besser noch schlechter. Einfach anders. Im Idealfall hätte man beides. Aber wenn das nicht möglich ist, ist eine Vaterfigur ein Geschenk.“
Gabriela hörte mit dem Fegen auf und setzte sich mitten auf der Baustelle neben Eduardo. „Danke, dass du so mit ihnen gesprochen hast. Ehrlich.“
„Sie haben es verdient. Alejandro… hat es nie gewusst. Es war ihm unangenehm, wenn wir über Familie sprachen.“
“Vielleicht, weil er wusste, dass er nicht mein ganzes Herz hatte.”
Gabriela starrte ihn an. „Woher weißt du das?“
„Deine Mutter hat es mir erzählt. Du konntest sie nie ganz lieben, weil ich da war, wie ein Geist.“
Meine Mutter redet zu viel.
„Sie spricht, weil sie dich liebt und dich glücklich sehen möchte.“
“Du glaubst, ich bin es nicht?”
Eduardo blickte sich um: das halbfertige Haus, das einfache Leben, das sie sich geschaffen hatte. „Ich glaube, du bist eine Überlebenskünstlerin. Dass du dich mit Krümeln zufriedengegeben hast, obwohl du ein Festmahl verdient hättest.“
„Krümel?“ Gabriela war beleidigt. „Mein Leben, sind das Krümel?“
„Ich glaube, du hast dich selbst eingeschränkt. Du hast dich selbst davon überzeugt, dass du nicht mehr verdienst.“
„Und was verdiene ich Ihrer Meinung nach?“
„Vollkommen geliebt zu werden. Die eigene Intelligenz anerkannt, die eigenen Ideen wertgeschätzt und die eigenen Träume geteilt zu bekommen. Ein schönes Zuhause und Stabilität zu haben. Und vor allem, glücklich zu sein ohne Schuldgefühle.“
Gabriela senkte den Kopf. „Es ist komplizierter.“
” Wofür ? ”
„Weil ich Angst habe.“ Es war das erste Mal, dass sie es zugab.
“Wovor hast du Angst?”
„Immer noch zu glauben und dann zu gehen. Dass die Mädchen sich an mich binden und leiden. Angst vor mir haben.“
“Von Ihnen?”
„Ich habe Angst davor, festzustellen, dass ich dich immer noch liebe. Und davor, nicht mehr aufhören zu können.“
Die Worte hingen in der Luft. Das erste richtige Geständnis.
“Was wäre, wenn du nicht anhalten müsstest?”, flüsterte er.
„Jeder muss irgendwann aufhören, jemanden zu lieben.“
„Warum? Manchmal finden Menschen zueinander.“
„Zwölf Jahre, Eduardo. Zwölf Jahre. Wir sind nicht mehr dieselben.“
„Nein. Uns geht es besser.“
Sechs Wochen später war das Haus fertig. Klein, aber einladend und solide. Drei Schlafzimmer, ein helles Wohnzimmer, eine Küche, in der endlich alle Platz fanden.
Am Umzugstag lud Eduardo das letzte Möbelstück ein – Gabrielas alte Matratze, die für den Müllcontainer bestimmt war.
„So“, sagte er und wischte sich die Stirn ab.
„Es ist perfekt“, sagte Gabriela mit strahlenden Augen. Die Mädchen rannten jubelnd von Zimmer zu Zimmer.
“So… was machen wir jetzt? Die Arbeit ist getan”, fragte Eduardo.
Ein Kloß der Panik umfing Gabriela. „Wirst du … wirst du gehen?“
„Ich habe dir gesagt, dass es von dir abhängt. Willst du, dass ich gehe?“
„Nein!“, riefen Valeria und Isabel gleichzeitig den Flur entlang.
Gabriela holte tief Luft. Sie blickte zu ihren Töchtern, zu dem Haus, das er mit eigenen Händen gebaut hatte, und dann zu ihm. Der Mann, bedeckt mit Gips und Schweiß, sah sie mit mehr Liebe an, als sie je zuvor gesehen hatte.
„Nein“, sagte sie leise. „Ich möchte nicht, dass du gehst.“
“Wer heute? Noch morgen?”
“Niemals.”
„Mama hat gesagt, du bleibst für immer hier!“, übersetzte Isabel und packte ihr Bein.
Eduardo lächelte, ein Lächeln, das sein ganzes Gesicht erhellte. „Also, ich glaube, ich bleibe.“
„Aber wo schläfst du denn?“, fragte Valeria pragmatisch. „Es gibt nur drei Schlafzimmer: unseres und Mamas.“
Eduardo blickte Gabriela mit hochgezogener Augenbraue an.
Sie errötete, senkte aber den Blick nicht. „Ich glaube … ich glaube, Mamas Zimmer ist groß genug für zwei.“
Valeria lächelte triumphierend. „Ich wusste es. Du wirst wieder heiraten.“
„Immer nur einen Tag nach dem anderen, meine Tochter“, lachte Gabriela.
„Einen Tag nach dem anderen“, wiederholte Eduardo und hielt sie fest im Arm.
Sechs Monate später heirateten sie im kleinen Innenhof ihres neuen Hauses. Eine schlichte Zeremonie im Beisein von Guadalupe und einigen Nachbarn. Valeria und Isabel waren Brautjungfern und trugen die gleichen Kleider.
Als der stellvertretende Bürgermeister sagte: „Sie dürfen die Braut küssen“, rief Isabel: „Küsse von Mama und Papa!“
Und als Eduardo Gabriela küsste, wusste er, dass er nicht nur ein Haus repariert hatte. Er hatte ein Zuhause wiederaufgebaut. Zwölf Jahre hatte es gedauert, eine Reise von Madrid in die Armut und zurück zur Liebe, aber er war endlich da, wo er hingehörte. Er hatte begriffen, dass wahrer Erfolg nicht in Euro auf dem Bankkonto gemessen wird, sondern an der Stärke der Mauern, die man um die Menschen gründete, die man liebt.