Sie heirateten in aller Stille, ohne große Feierlichkeiten. Sie ließen ihre Verbindung lediglich beim Standesamt registrieren und gaben am Abend ein kleines Abendessen für ihre engsten Angehörigen. Baba Vera weinte vor Freude, als sie das Brautpaar segnete und ihnen sagte, dass sie diesen schönen Tag noch erlebt hatte. Leszka war 25, als etwas geschah, das alles noch einmal veränderte.
Eines Winterabends, wieder Winter, wieder Februar, ein weiterer Jahrestag jener schrecklichen Nacht, erhielt er einen Anruf von der Polizei. Der diensthabende Beamte stotterte, aber Leszka verstand, was er meinte: Ein Kind, ein etwa sechsjähriger Junge, war auf der Straße gefunden worden, barfuß, nur mit einem T-Shirt bekleidet, frierend. Nachbarn riefen die Polizei.
Das Kind sagte nur ihren Namen, Wanja. Mehr sagte er nicht, er war schockiert. „Wir wissen, dass Sie sich mit solchen Angelegenheiten befassen“, sagte der Beamte.
„Kannst du gehen?“ Der Junge lässt niemanden an sich heran, er hat Angst vor allen. „Vielleicht könntest du mit ihm reden?“ Leszka schnappte sich seine Jacke und rannte los. Sein Herz klopfte die ganze Zeit.
Ein Sechsjähriger, barfuß, im Winter, nur mit einem T-Shirt bekleidet. Ein Doppelgänger seiner eigenen Geschichte von vor 20 Jahren. Auf der Polizeiwache saß der Junge in einer Ecke des Raumes, in eine Decke gehüllt, und zitterte.
Riesige, verängstigte Augen starrten ins Leere. Ihr Gesicht war blass, ihre Lippen blau und ihre Füße schwer erfroren. Leszka hockte sich neben sie, achtete darauf, ihr nicht zu nahe zu kommen, um sie nicht zu erschrecken.
„Hallo, Wanja“, sagte er leise. „Mein Name ist Lescha. Ich bin gekommen, um dir zu helfen.“
Der Junge zuckte zusammen, sah ihn misstrauisch an, wich aber nicht zurück. „Weißt du, was ich dir jetzt sagen werde?“, fuhr Leszka mit sanfter Stimme fort. „Als ich fünf war, ist mir das Gleiche passiert.“
Mein Vater hat mich im Winter barfuß und ohne Kleidung auf die Straße geworfen. Ich wäre fast erfroren. Ich hatte große Angst.
„Ich dachte, ich würde sterben.“ Vanya hörte aufmerksam zu. In seinen Augen erschien ein interessiertes Funkeln.
„Aber ich bin nicht gestorben“, fuhr Leszka fort. „Eine freundliche Frau hat mich gerettet. Sie ließ mich in ihr Haus, wärmte mich und gab mir zu essen.“
Dann wurde sie zu meiner Familie. Und wissen Sie was? Jetzt bin ich erwachsen, habe einen Job, eine Frau und eine eigene Wohnung. Ich helfe den Jungs, so wie wir uns früher gegenseitig geholfen haben.
„Ich werde dir auch helfen. Versprochen.“ „Wirklich?“, flüsterte Vanya.
Es war das erste Wort, das er sprach, seit sie ihn gefunden hatten. „Es ist wahr“, antwortete Leszka entschieden. „Du bist in Sicherheit.“
„Niemand wird dir mehr wehtun. Erzähl mir, was passiert ist.“ Und Vanya sagte.
Die Geschichte kam ihm schmerzlich bekannt vor: eine betrunkene Mutter, ihr Partner, ein Streit, eine Prügelattacke, ein Kind, das als Strafe für schlechtes Benehmen in die eisige Kälte hinausgeworfen wurde. Ein klassischer Fall häuslicher Gewalt. Leszka hörte zu und ballte die Fäuste.
Zwanzig Jahre waren seit seiner eigenen Geschichte vergangen, und nichts hatte sich geändert. Dieselben betrunkenen Eltern, dieselben verlassenen Kinder, dieselbe Grausamkeit. Doch jetzt konnte er helfen.
Er war kein hilfloser Fünfjähriger, sondern ein erfahrener Fachmann mit Autorität und Können. „Vania, wir bringen dich jetzt ins Krankenhaus“, sagte Leszka. „Die Ärzte werden deine Beine untersuchen und versorgen.“
Dann wirst du an einem guten Ort leben, warm und sicher. Und wir werden deine Mutter und ihre Freundin zur Verantwortung ziehen. Sie hatten kein Recht, dich so zu behandeln.
„Verstehst du?“, nickte Vanya. „Und ich komme nicht zu Mama zurück?“ „Nicht so bald. Vielleicht kommst du gar nicht zurück, wenn sie sich nicht ändert.“
Aber es ist das Beste. Du verdienst es, dort zu leben, wo du geliebt und respektiert wirst. Der Junge dachte einen Moment nach und streckte dann zögernd die Hand aus.
Leszka nahm sie auf, klein, kühl und vertrauensvoll. In der folgenden Woche übernahm Leszka Wanias Fall. Seiner Mutter waren die elterlichen Rechte entzogen worden; es hatte zu viele Verstöße, zu viele offensichtliche Missbräuche gegeben.
Den Mitbewohnern wurde Anklage wegen Straftaten vorgeworfen. Wania kam in eine Pflegefamilie. Leszka wählte die Kandidaten persönlich aus, überprüfte sie, kontaktierte sie und sorgte dafür, dass das Kind in guten Händen war. Die Pflegeeltern waren ein kinderloses Paar mittleren Alters, beide Lehrer, freundliche und geduldige Menschen, die sich immer ein Kind gewünscht hatten, aber kein eigenes bekommen konnten.
Sie verliebten sich auf den ersten Blick in Wanja, und der Junge begann vorsichtig, ihre Gefühle zu erwidern. Leszka besuchte Wanja regelmäßig. Er beobachtete, wie der Junge allmählich entspannter wurde, anfing zu lächeln, zu spielen und Menschen zu vertrauen.
Es war ein Wunder, ein Wunder der Heilung, vollbracht mit Liebe und Sorgfalt. Eines Tages, als Leszka uns wieder besuchte, fragte Wanja: „Onkel Leszka, warst du wirklich wie ich?“ „Wirklich?“ „Und wurdest du auch gerettet?“ „Ja.“
Und dann bist du erwachsen geworden und hast angefangen, andere zu retten? Das stimmt. Wanja dachte einen Moment nach und sagte dann ernst: „Also, wenn ich groß bin, werde ich auch Leuten wie uns helfen. Okay?“ Leszek stockte der Atem.
Er sah in diesem Jungen sein zwanzigjähriges Ich wieder, dasselbe Ich, das versprochen hatte, anderen zu helfen. „Okay“, antwortete er heiser. „Du wirst helfen.“
Und ich werde dir zeigen, wie man es richtig macht. Der Vorfall mit Wania hat etwas in Leszka verändert. Er erkannte, dass die Arbeit im Zentrum, egal wie gut er sie machte, nur ein Tropfen auf den heißen Stein war.
Das Problem der häuslichen Gewalt gegen Kinder war enorm und systemisch. Es musste mehr getan werden, um das System selbst zu beeinflussen und Einstellungen zu ändern. Er begann, Artikel für Fachzeitschriften zu schreiben, auf Konferenzen zu sprechen und seine Erfahrungen zu teilen.
Seine Arbeit wurde bemerkt, zitiert und er wurde zu Vorlesungen an Universitäten eingeladen. Katja unterstützte ihn abends in jeder Hinsicht; gemeinsam lasen sie seine wissenschaftlichen Arbeiten, redigierten seine Texte und schlugen Ideen vor. Baba Vera war unglaublich stolz auf ihn.
Sie war über 70 Jahre alt und gesundheitlich angeschlagen, aber immer noch wach und geistig gesund. Leshka besuchte sie wöchentlich und erzählte ihr von seiner Arbeit und wie vielen Kindern er geholfen hatte. „Siehst du, Leshka“, sagte sie und streichelte ihn mit ihrer runzligen Hand, „dein Schneesturm hat dich nicht enttäuscht …“
Du bist wirklich ein Licht für viele geworden. Wie viele Kinder hast du bisher gerettet? Ich bin nicht allein, Bab Ver. Das Team arbeitet, das System hilft.
„Aber du bist die Seele dieses Teams. Ohne dich wäre nicht viel passiert.“ Leszka lächelte schüchtern.
Er mochte es nicht, gelobt zu werden. Für ihn war es einfach ein wichtiger, notwendiger Job, aber immerhin ein Job. Er tat, was er tun musste, und erfüllte die Versprechen, die er vor 20 Jahren gegeben hatte.
Mit 27 Jahren traf Leshka die wichtige Entscheidung, eine eigene Wohltätigkeitsstiftung zu gründen, um Kindern zu helfen, die von häuslicher Gewalt betroffen sind. Katya wurde Mitbegründerin. Sie investierten ihre eigenen Ersparnisse, gewannen Sponsoren und fanden einen Standort.
Die Stiftung hieß schlicht „Warmes Zuhause“. Ihre Aufgabe war es, Kindern zu helfen, die verstoßen, verlassen oder sexuell missbraucht worden waren. Sie bot vorübergehende Unterkunft, Rechtsbeistand, psychologische Unterstützung und Hilfe bei der Unterbringung in Pflegefamilien oder der Wiedereingliederung in ihre leiblichen Familien, wenn sich ihre Eltern zum Besseren verändert hatten.
Der erste Begünstigte der Stiftung war der zehnjährige Kostia. Sein alkoholkranker Vater schlug ihn, und seine Mutter hatte Angst einzugreifen. Nachbarn riefen die Polizei, und Kostia wurde von seiner Familie getrennt. Leszka kümmerte sich persönlich um seinen Fall, half ihm, eine gute Pflegefamilie zu finden, und gab dem Jungen jede Hilfe, die er brauchte.
Dann waren da noch die anderen Mädchen: Lena, die von ihrem Stiefvater vergewaltigt wurde; die Zwillinge Sascha und Mascha, die von ihrer drogenabhängigen Mutter verlassen wurden; und der Teenager Igor, der vor seinen misshandelnden Eltern davonlief. Jede Geschichte war herzzerreißend und erforderte eine individuelle Herangehensweise.
Leszka arbeitete, bis er tot umfiel. Katia machte sich Sorgen; er schlief nur vier Stunden, aß unregelmäßig und sah erschöpft aus. Aber er war nicht zu stoppen.
Jedes gerettete Kind gab ihm die Kraft, seine Arbeit fortzusetzen. Die Stiftung wuchs. Innerhalb eines Jahres zählte sie drei Vollzeitpsychologen, zwei Anwälte, fünf Sozialarbeiter und Dutzende Freiwillige.
Sie halfen Hunderten von Kindern. Die Zahl der Sponsoren wuchs, Leszkas Geschichte und persönliche Erfahrungen wuchsen, die Menschen waren bewegt und viele wollten helfen. Die Medien interessierten sich für die Stiftung.
Journalisten kamen und baten um ein Interview. Lesza lehnte zunächst ab, da er die Öffentlichkeit nicht mochte, aber Katia überzeugte ihn, dass es notwendig sei. Je mehr Menschen von uns erfahren, desto mehr Kinder können wir retten.
Erzählen Sie Ihre Geschichte. Zeigen Sie, dass aus einem verlassenen Kind ein erfolgreicher Mensch werden kann. Das gibt anderen Hoffnung.
Das Interview erschien in einer großen Zeitung unter der Überschrift „Der eingefrorene Junge, der zum Retter wurde“. Leshka erzählte alles über jene Februarnacht vor 22 Jahren: den Schneesturm, Oma Vera und seinen Weg vom verlassenen Fünfjährigen zum Leiter einer Wohltätigkeitsstiftung.
Die Resonanz war unglaublich. Hunderte von Briefen, Anrufen und Nachrichten. Die Leute schrieben, dass sie beim Lesen der Geschichte geweint hätten.
Menschen boten ihre Hilfe an, meldeten sich freiwillig und spendeten. Manche schrieben ihre eigenen Geschichten, die ebenso schrecklich und schmerzhaft waren. Ein Brief berührte Leszka besonders.
Eine Frau in den Vierzigern schrieb. Sie erzählte, dass sie vor 22 Jahren an einem kalten Februarabend am Gebäude vorbeiging und ein Kind mit tiefer Stimme auf der Veranda sah. Sie wollte helfen, hatte aber Angst, dass die Eltern sie für eine Störenfriedin halten würden.
„Ich bin an ihm vorbeigegangen. Ich habe es mein ganzes Leben lang bereut und war von Schuldgefühlen geplagt. Als ich Ihre Geschichte las, wurde mir klar, dass Sie es waren, dieser Junge“, schrieb sie.
Bitte verzeihen Sie mir. Ich war ein Feigling. Aber jetzt, nachdem ich von Ihrer Stiftung gelesen habe, möchte ich es wiedergutmachen.
„Ich schicke Ihnen eine großzügige Spende. So kann ich wenigstens den Kindern helfen, denen ich damals nicht helfen konnte.“ Leszka las den Brief mit zitternden Händen.
Diesmal ging die Frau tatsächlich an ihm vorbei. Er erinnerte sich nicht an ihr Gesicht, aber er erinnerte sich an jemanden, der vorbeigegangen war, ohne anzuhalten. Er schrieb ihr eine persönliche Nachricht und dankte ihr für ihre Ehrlichkeit und Hilfe.
Machen Sie sich keine Vorwürfe. Das konnten Sie nicht wissen. Das Wichtigste ist, dass Sie jetzt die richtige Entscheidung treffen. Das Leben drehte sich immer schneller.
Die Stiftung expandierte und eröffnete Niederlassungen in anderen Städten. Leshka wurde als Berater in Regierungskommissionen für Kinderrechte eingeladen. Seine Meinung gewann an Bedeutung und wurde gehört.
Doch er blieb derselbe: einfach, zugänglich, menschlich. Er vergaß nie, woher er kam. Er erinnerte sich immer an den erfrorenen Fünfjährigen auf der Veranda.
Als Lesha 30 wurde, geschah etwas, was er befürchtet hatte, aber von dem er wusste, dass es unvermeidlich war. Oma Vera wurde krank. Die Ärzte diagnostizierten einen Schlaganfall – keinen kritischen, aber einen schweren.
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