Ich nickte, unfähig, ein Wort herauszubringen.
Er starb, und einen Moment lang stand ich allein – wirklich allein – am Sarg des Mannes, den ich mehr liebte als jeden anderen Menschen auf der Welt.
„Henry“, flüsterte ich mit zitternder Stimme. „Du hättest Besseres verdient.“
Als ich nach Hause kam, wirkte es zu groß. Seine Hausschuhe stehen noch immer neben der Tür. Seine Kaffeetasse stand noch da, wo er sie vor drei Wochen abgestellt hatte, verfärbt von jahrelangem Morgentee. Ich schalte alle Lampen an, nicht weil ich Licht brauche, sondern weil ich Wärme brauche – irgendetwas, um die Leere zu füllen.
Ich saß in Henrys Sessel, dessen Leder noch immer schwach nach seinem Parfüm und alten Papieren roch. Und in dieser Stille – schwer, vollkommen, fast heilig – flüsterte ich in den leeren Raum: „Ich werde dafür sorgen, dass sie sich an ihre Taten erinnern.“
Wille
Am Morgen nach der Beerdigung wirkte die Welt unnatürlich hell. Die Sonne schien durch die Vorhänge und fiel auf die leere Seite von Henrys Bett. Ich habe nicht geschlafen.
Um 9:00 Uhr klingelt es an der Tür. Der Kurier überreichte mir einen dicken, cremefarbenen Umschlag. Er war von Herrn Harland, dem Anwalt unserer Familie seit dreißig Jahren. Henrys Testament war zur bereit Bearbeitung.
Ich fuhr zu seinem Büro, demselben Gebäude, in dem Henry unzählige Verträge für sein Bauunternehmen unterzeichnet hatte. Herr Harland begrüßte mich mit gezwungener Höflichkeit.
„Ruth“, sagte er leise und schob seine Aktentasche über den Mahagonischreibtisch. „Henry hat dir alles hinterlassen. Seine Firmenanteile, sein Haus, seine Ersparnisse. Es gehört alles dir, und du kannst damit machen, was du willst.“
Ich nickte langsam. „Das war es, was er sich immer gewünscht hat. Dass es einfach bleibt.“
Bevor ich weitere Fragen stellen konnte, vibrierte mein Handy. Es war Daniel. Ich hatte nichts mehr von ihm gehört, seit er die Beerdigung abgesagt hatte.
„Mama“, sagte er mit scharfer, gefühlloser Stimme. „Ich habe gerade mit Harlands Assistentin gesprochen. Sie sagte, Dad hätte dir alles in seinem Testament vermacht. Das hat Dad mir nicht versprochen.“
Ich spürte ein Engegefühl in der Brust. „Daniel, dein Vater …“
„Stell dich nicht dumm, Mama“, knurrte er. „Er hat mir gesagt, ich würde die Firma übernehmen. Ich habe sie die letzten zwei Jahre geleitet, während er krank war. Wie konntest du nur?“
„Daniel, hör dir doch mal selbst zu“, sagte ich mit zitternder Stimme. „Dein Vater wollte Stabilität. Er wollte nicht, dass die Firma im Chaos versinkt.“
Es herrschte Stille, dann ein bitteres Lachen. „Du hast ihn manipuliert, nicht wahr? Du hast ihn gezwungen, sich zu verändern, als er schwach war, kurz bevor er starb.“
“Daniel! Wie kannst du es wagen?”
Er legte auf, bevor ich ausreden konnte.
Eine ohrenbetäubende Stille senkte sich herab. Mir war übel, als ich die Anwaltskanzlei verließ. Zuhause angekommen, erwartete mich eine weitere Nachricht auf meinem Handy. Diesmal war sie von Emily.
Mama, ich kann es nicht fassen, dass du das getan hast. Daniel hat mir alles erzählt. Du hast Papa gegen uns aufgehetzt, um an Geld zu kommen. Ich will nicht mit dir reden.
Zwei Kinder. Zwei Verrätereien in weniger als einer Stunde.
Entdeckung
In jener Nacht saß ich in Henrys Büro, die Anschuldigungen hallten immer wieder in meinem Kopf wider. Du hast ihn manipuliert. Du hast Dad gegen uns aufgehetzt.
Es ergab keinen Sinn. Henry liebte sie, auch wenn sie getrennt waren. Warum sollte er den Kontakt zu ihnen komplett abbrechen, ohne es ihnen zu sagen?
Da traf mich ein anderer Gedanke, kalt und scharf. Henry hatte Daniel den Zugang zu den Firmenkonten und Rechtsdokumenten anvertraut, als er erkrankte und sich nicht mehr um das Tagesgeschäft kümmern konnte.
Ich ballte die Fäuste. „Henry“, flüsterte ich in den stillen Raum, „was hat er getan?“
Ich begann zu suchen. Nicht nach Geld, sondern nach Antworten. Ich durchsuchte seinen Schreibtisch, jede Schublade in seiner ordentlichen Handschrift beschriftet. Rechnungen. Verträge. Quittungen.
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