
Meine Schwiegermutter behauptete immer wieder, der Sturz meines Sohnes sei nichts weiter als ein Ausrutscher gewesen, bis ein Nachbar ein Video teilte, das enthüllte, wer ihn zum Stolpern gebracht hatte.
Doch Sarah litt unter Schuldgefühlen. Sie hätte aufpassen sollen. Sie hätte nicht die Einkäufe auspacken sollen. Jeder Blick auf Leos Gipsverband zeugte von Versagen. Doch unter diesen Schuldgefühlen wuchs ein Argwohn – scharf und kalt.
Die Angst des Jungen
Leos Welt schrumpfte. Einst furchtlos und mutig, bewegte er sich nun vorsichtig, zuckte bei plötzlichen Geräuschen zusammen und mied Treppen. Am aufschlussreichsten war seine Reaktion auf seine Großmutter und seinen Onkel.
Als Mark das Zimmer betrat, kuschelte sich Leo in die Sofakissen und versuchte zu verschwinden. Als Eleanor ihn mit einer ihrer geübten Großmutterumarmungen umarmte, versteifte sich sein kleiner Körper und seine Augen weiteten sich vor Schreck.
Eines Abends, als Sarah ihn zu Bett brachte, strich sie ihm sanft übers Haar.
„Liebling“, flüsterte sie, „kannst du Mama erzählen, was auf der Treppe passiert ist? Hattest du Angst?“
Leo lag lange still da und starrte auf die leuchtenden Plastiksterne an der Decke. Schließlich drehte er den Kopf, seine sanfte Stimme wurde vom Kissen gedämpft.
„Onkel Mark hat furchtbar gespielt.“
Sarah spürte einen Schauer.
„Ein abscheuliches Spiel? Was für ein Spiel, Liebling?“
Doch er schüttelte den Kopf, presste die zitternden Lippen zusammen und vergrub sich in der Decke. Das war alles. Ein böses Spiel. Kein Unfall. Ein Spiel. Genug, um ihre Zweifel in Gewissheit zu verwandeln.
Video
Ein paar Tage später erhielt Sarah eine E-Mail von ihrer Nachbarin Carol, einer netten Rentnerin. Der Betreff lautete: „Ich denke an dich.“
„Liebe Sarah,
es tut mir so leid wegen Leos Arm. Ich hoffe, er heilt gut. Es mag seltsam klingen, aber wir haben gerade eine Video-Türklingel installiert, die einen Teil des Tumults bei dir am Samstag aufgezeichnet hat. Ich weiß nicht, ob sie dir hilft, aber ich dachte, du solltest sie haben.
Alles Gute, Carol.“
Im Anhang befindet sich eine kleine Videodatei.
Sarahs Herz klopfte, als sie auf „Herunterladen“ klickte. Angst packte sie. Ein Teil von ihr wollte es löschen, mit dieser schrecklichen Lüge leben. Doch dann dachte sie an Leos Augen und wusste, dass sie vorsichtig sein musste.
Die Weitwinkelaufnahme der Kamera zeigte die Eingangstür und ein großes Fenster daneben mit Blick auf das Treppenhaus. Der Zeitstempel stimmte mit dem Tag überein.
Da stand Leo, fröhlich in seinem roten T-Shirt, summte vor sich hin, während er vorsichtig hinunterstieg und sich am Geländer festhielt. Er rannte nicht. Er trug Hausschuhe, keine Socken. Lüge Nummer eins entlarvt.
Dann erschien Mark am Fuß der Treppe. Als Leo die dritte Stufe erreichte, rutschte Marks Fuß ab. Es war nicht ungeschickt. Es war absichtlich, schnell und grausam.
Sarah stöhnte und bedeckte ihren Mund mit der Hand, als Leos Körper auf den harten Parkettboden fiel. Das Geräusch war gedämpft, doch sein Schrei durchschnitt die Luft.
Ihre Augen waren auf den Bildschirm gerichtet. Der Film war noch nicht vorbei.
Eleanor stürzte sich auf ihn – aber nicht auf Leo. Sie rannte direkt auf Mark zu. Sie umarmte ihren erwachsenen Sohn. Sarah beobachtete, wie sich ihre Lippen schnell bewegten und flüsterten. Sie konstruierte eine Lüge, ohne den am Boden liegenden Jungen auch nur anzusehen.
Abendessen
Am Sonntag traf sich die Familie zum Abendessen. Die Spannung war groß, obwohl Eleanor mit zuckersüßem Charme die Gastgeberin spielte.