
Mit gerade einmal vierzehn Jahren wurde sie wegen ihrer Schwangerschaft aus ihrem Zuhause geworfen – ihre Rückkehr einige Jahre später schockierte die ganze Familie.
Lange herrschte Stille. Dann wanderte Margarets Blick zu dem Mädchen – ihre Augen weiteten sich ungläubig. „Sie ist … sie ist wunderschön“, flüsterte sie. „Genau wie du.“
Das Abendessen an diesem Abend war voller unausgesprochener Worte. Daniel versuchte, die Atmosphäre mit Smalltalk zu füllen, doch Emily spürte die Spannung aus allen Ecken. Nachdem Lily zu Bett gegangen war, sprach Margaret endlich.
„Ich habe jeden Tag gebetet, dass Gott dir vergibt“, sagte sie leise. „Aber ich konnte nicht. Nicht nach dem, was du getan hast.“
Emilys Kehle schnürte sich zu. „Ich war vierzehn, Mama. Ich habe dir nichts getan. Ich hatte Angst.“
„Du hast Schande über diese Familie gebracht“, zischte Margaret mit schwacher Stimme. „Dein Vater konnte das nicht ertragen. Er starb in dem Glauben, du würdest ihn hassen.“
Emilys Herz brach. „Ich habe ihn nicht gehasst“, flüsterte sie. „Ich hasste das Gefühl, das du mir gegeben hast – unerwünscht.“
Margarets Augen füllten sich mit Tränen, aber sie wandte ihr Gesicht ab. „Vielleicht habe ich es verdient.“
In dieser Nacht lag Emily wach und lauschte dem Knarren des alten Hauses. Irgendwo im Flur hustete ihre Mutter – schwach, immer schwächer. Und zum ersten Mal seit Jahren fühlte Emily etwas Unerwartetes: nicht Wut, sondern Traurigkeit.
Morgenlicht fiel durch die verblichenen Vorhänge und tauchte den Raum in ein goldenes Licht. Emily saß am Küchentisch und trank Kaffee, als Lily sich zu ihr gesellte, barfuß und mit vom Schlaf zerzaustem Haar.
„Mama“, sagte Lily leise. „Oma hat letzte Nacht geweint.“
Emily seufzte. „Ja. Wir haben beide vieles nie gesagt.“
Lily zögerte. „Du hast mir immer gesagt, Menschen könnten sich ändern, wenn sie es nur wollten.“
Emily sah ihrer Tochter in die Augen – dieselben grünen Augen, die ihre Mutter einst dazu gebracht hatten, sich abzuwenden. „Das glaube ich immer noch“, sagte sie leise.
An diesem Nachmittag bat Margaret darum, Emily allein zu sehen. Sie saßen auf der Veranda, in einem Schal gehüllt, die Bibel auf dem Schoß. „Mir bleibt nicht mehr viel Zeit“, sagte sie. „Ich bin schon seit einiger Zeit krank – man nennt es Herzversagen. Ich wollte nicht, dass du mich so siehst.“
Emily schluckte. „Ich wünschte, du hättest es mir früher gesagt.“
Margaret starrte auf ihre Hände. „Erinnerst du dich an die Nacht, als du gegangen bist? Ich habe mir immer gesagt, dass ich das Richtige tue – den guten Namen meiner Familie zu schützen und zu verhindern, dass die Leute über mich reden. Aber seitdem frage ich mich jedes Jahr, ob ich aus Stolz mein Kind von mir genommen habe.“
Emily unterdrückte ihre Tränen. „Du hast es geschafft, Mama. Aber ich bin trotzdem zurückgekommen.“
Die Stimme der alten Frau Brach. „Wirst du mir jemals verzeihen?“
Emily griff über den Tisch und nahm die zitternde Hand ihrer Mutter. „Das habe ich schon getan. Ich wollte nur, dass du fragst.“
Zum ersten Mal seit vierzehn Jahren lächelte Margaret – blass, aber aufrichtig. „Ihre Tochter“, sagte sie leise, „ist meine zweite Chance, nicht wahr?“
Emily nickte. „Ja, Sir.“
In den Wochen blieb Emily, um ihre Mutter zu pflegen. Sie kochten zusammen, lachten über alte Fotos und begannen, das Zerstörte wieder aufzubauen. Lily saß oft neben Margaret und laschte Geschichten über die Kindheit, in der sich ihre Mutter einst verloren gefühlt hatte.
Als der Winter kam, starb Margaret friedlich im Schlaf, mit einem höheren Lächeln im Gesicht. Bei der Beerdigung stand Emily an ihrem Grab und hielt Lilys Hand. Der Himmel war blassgrau, und der Wind raschelte in den Bäumen.