Mit sechs Jahren sollte ein Kind von Wärme, Schutz und der Liebe seiner Eltern umgeben sein.
Doch für die kleine Lisa war das Leben ganz anders. Sie hatte sich bereits daran gewöhnt, dass ihre Eltern auf „Geschäftsreisen“ verschwanden und sie sich selbst überlassen war. Sie versprachen immer, bald wiederzukommen, doch „bald“ wurde zu endlosen Tagen.
In diesem Herbst heulte der Wind durch die Ritzen in den Wänden, und das Haus war bitterkalt. Ihre Eltern stellten ein halbes Brot und eine Flasche Wasser auf den Tisch, bevor sie gingen.
„Sei brav, wir sind schneller zurück, als du es merkst. Geh nicht raus, sonst passiert etwas Schlimmes“, sorgte sich ihre Mutter und zog hastig ihren Mantel an.
Die ersten Stunden wartete Lisa am Fenster. Sie flüsterte ihren Puppen zu und redete sich ein, ihre Mutter würde jeden Moment zurückkommen. Doch bald verschwamm die Zeit. Ein grauer Tag verschmolz mit dem nächsten. Sie kuschelte sich unter eine dünne Decke und versteckte sich unter dem Tisch, wenn die Dunkelheit zu drückend wurde. Als das Brot alle war, kratzte sie mit einem Löffel den Boden der Schüssel ab und suchte verzweifelt nach Krümeln.
Die Nächte waren am härtesten. Lisa presste die Hände auf die Ohren und zitterte bei jedem Geräusch: dem Wind, der gegen die Fensterläden schlug, dem Kratzen von Ratten unter den Dielen, den Schritten, die sie im Flur zu hören glaubte. In der Stille flüsterte sie immer wieder:
– Mama kommt… Mama ist nah…
Aber niemand kam.