Ein leiser Zweifel begann in ihr zu wachsen, den sie nicht loslassen wollte. In den folgenden Tagen wurde Julia aufmerksamer. Ihr äußeres Auftreten blieb unverändert, doch ihr Blick wurde schärfer.
Ihr fiel auf, wie Lilia bestimmte Formen des Kontakts vermied. Manchmal zuckte sie zusammen, wenn jemand zu dicht hinter ihr herging. Ein anderes Mal verstummte sie völlig, wenn Roman den Raum betrat.
Nichts davon war dramatisch oder offensichtlich, aber zusammengenommen verursachten sie Julia ein ungutes Gefühl. Sie fragte sich auch, warum Lilia nie über ihre Mutter sprach. Kinder sprechen oft über die Eltern, die sie verloren haben, doch Lilia schwieg.
Julia fragte Roman einmal beiläufig, ob Lilia jemals über ihre Mutter gesprochen habe. Er antwortete knapp: „Nicht sehr oft.“ Er schien nicht gewillt, das Thema weiter zu vertiefen.
Diese Antwort verstärkte Julias Zweifel nur noch. Es ging nicht nur um das, was gesagt worden war, sondern auch um das, was nie gesagt worden war. Das Schweigen über Lilias Vergangenheit wurde schwerer.
Eines Nachts fand Julia in ihrem Büro ein Fotoalbum. Es war verstaubt und hinter mehreren dicken Ordnern versteckt. Neugierig öffnete sie es.
Darin befanden sich Fotos von Roman, einer Frau und einem Kind. Ihr wurde klar, dass die Frau Romans Frau sein musste. Auf diesen alten Fotos sahen sie wie eine glückliche Familie aus, aber es waren nur wenige Fotos vorhanden, und das Album war auf der dritten Seite leer.
Julia hatte das Gefühl, als ob etwas fehlte. Es gab keine Kindheitsfotos von Lilia, keine Schulfotos, keine Geburtstage. Sie hatte das Gefühl, als wäre ihr Leben zum Stillstand gekommen.
Julia klappte das Album zu und legte es zurück. Sie wollte keinen Ärger machen, doch in ihrem Kopf wuchsen Fragen. Warum war Lilias Geschichte so leer? Warum vermied Roman immer bestimmte Themen? Irgendetwas wurde verheimlicht.
Jetzt war sie sich sicher. Von diesem Moment an konnte Julia ihre Gefühle nicht länger ignorieren. Sie begann, nach kleinen Hinweisen zu suchen, nicht weil sie in die Privatsphäre anderer eindringen wollte, sondern weil sie sich verantwortlich fühlte.
Sie war bisher nur beruflich in dieses Haus gekommen, doch nun war Lilia ihr wirklich nahe. Ein Wort, „Mama“, veränderte alles. Es öffnete die Tür zu Julias Herz und Verstand.
Sie wusste, wie es war, ein Kind zu verlieren, jemanden zu vermissen, der nie wiederkommen würde. Doch Lilias Schmerz war anders. Es war nicht nur Verlust, sondern Verwirrung, Angst und vielleicht noch etwas Schlimmeres.
Julia wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen. Sie hatte keine bösen Absichten, was diese Affäre betraf, aber sie musste die Wahrheit erfahren. Tief in ihrem Inneren drängte sie dazu, herauszufinden, was in diesem Haus wirklich passiert war.
Sie hatte keinen klaren Plan, doch dieser eine Moment, dieses eine Wort von Lilia, säte einen stillen, wachsenden Zweifel in ihr. Julia begann in ihrer Freizeit, die Winkel und Ecken des Herrenhauses zu erkunden. Es war nicht bloße Neugier, sondern eine stille Suche nach Verständnis.
Das Haus hatte viele Schränke und geschlossene Vitrinen. Eines Nachmittags, als sie den Raum neben der Kellertreppe aufräumte, öffnete sie einen alten Kleiderschrank. Darin befanden sich mehrere beschriftete Kartons.
Die meisten Etiketten waren verblasst, aber auf einigen standen noch die Namen der Medikamente. Sie zog eine Schachtel heraus und öffnete sie. Darin befanden sich Tablettenfläschchen, Injektionssets und mehrere Ampullen mit medizinischen Etiketten, die sie noch nie zuvor gesehen hatte.
Die Daten waren längst verschwunden, und die Etiketten trugen Lilias Namen. Als Julia den Inhalt untersuchte, bemerkte sie etwas Merkwürdiges. Viele der Medikamente waren ungewöhnlich …
Auf manchen standen Warnungen in roter Schrift. Andere trugen seltsame Namen, die sie nicht kannte. Julia beschloss, mit ihrem Handy ein Foto davon zu machen, um es sich später anzusehen.
In dieser Nacht, nachdem Lilia eingeschlafen war und es im Haus ruhig war, setzte sich Julia im Bett auf und begann, nach Medikamentennamen zu suchen. Einige Ergebnisse wurden sofort angezeigt. Einige waren gängige Krebsmedikamente, andere waren schwieriger zu finden.
Schließlich stieß sie auf Informationen über Medikamente, die als experimentell galten, insbesondere für Kinder. Die Nebenwirkungen waren schwerwiegend und führten zu Organschäden, hormonellen Störungen und psychischen Problemen. Ein Medikament wurde in einigen Ländern aus Sicherheitsgründen sogar verboten.
Julias Herz klopfte. Jetzt verstand sie, warum Lilias Körper so schwach war und warum sie so empfindlich reagierte. Das waren ungewöhnliche Behandlungen.
Warum wurden sie verabreicht? Wer hat sie genehmigt? Julia konnte das Gefühl nicht loswerden, dass etwas schiefgelaufen war. Vielleicht hatte man Lilia diese Medikamente ohne angemessene ärztliche Aufsicht verabreicht. Der Gedanke machte ihr übel.
Dies war keine gewöhnliche Krankheit mehr. Möglicherweise war der Schaden vorsätzlich herbeigeführt worden oder das Ergebnis von Vernachlässigung. Julia schlief in dieser Nacht schlecht.
In ihrem Kopf rasten die Gedanken. Sie versuchte sich vorzustellen, was Roman wusste. Hatte er diese Medikamente genehmigt? War er sich der Risiken bewusst? Oder hatte er dem Arzt vielleicht blind vertraut, ohne die Einzelheiten zu überprüfen? Je mehr sie nachdachte, desto mehr Fragen tauchten auf, doch sie fand keine Antworten.
Sie wollte sofort mit Roman reden, doch etwas hielt sie zurück. Was, wenn er wirklich glaubte, Lilia zu helfen? Was, wenn er es nicht wusste? Und schlimmer noch, was, wenn er es wusste, aber trotzdem weitermachte? Julia wollte ihr keine Vorwürfe ohne Beweise machen, doch die Angst wuchs in ihr. Sie sah, wie zerbrechlich Lilia war, wie schweigsam und distanziert.
Nun fragte sie sich, ob einige dieser Beschwerden durch die Behandlung selbst verursacht wurden. Vielleicht waren es nicht nur Nebenwirkungen, sondern Teil von etwas viel Ernsterem. Julia fühlte sich nun gezwungen, die Wahrheit herauszufinden.
Am nächsten Tag ging sie ihren Aufgaben wie gewohnt nach, doch ihre Einstellung hatte sich geändert. Sie beobachtete alles genauer. Als die Krankenschwester Lilia ihre täglichen Medikamente brachte, achtete Julia auf die Etiketten, die Dosierung und das Verhalten der Krankenschwester.
Sie sagte nichts, sondern beobachtete nur. Sie überprüfte auch noch einmal die Badezimmerschränke und verglich die aktuellen Medikamente mit denen, die sie in der Speisekammer gefunden hatte. Einige der Namen stimmten überein.
Das machte ihr noch mehr Sorgen. Sie begann, Lilias Krankenakte durchzusehen, die in Romans Praxis aufbewahrt wurde. Sie nahm nichts mit, warf aber einen Blick auf die Notizen, als Roman kurz weg war.
Ein Ordner enthielt Laborberichte mit unbekannten Begriffen. Julia hob sie auf, um sie später zu studieren. Je tiefer sie sich damit befasste, desto stärker spürte sie, dass etwas nicht stimmte.
Ihre Hände zitterten leicht, als sie den Ordner schloss. Es waren nicht länger bloße Vermutungen. Es wurde etwas Ernstes verheimlicht, das direkt mit Lilias Gesundheit zusammenhing.
Julia wusste, dass sie das nicht lange alleine durchstehen würde, aber es war ein großer Schritt, Roman davon zu erzählen. Wäre er unschuldig, würde es ihm vielleicht Angst machen. Wäre er schuldig, würde es sie in Gefahr bringen.
Also beschloss sie, noch etwas zu warten. Sie brauchte mehr Beweise. Sie wollte alles verstehen, bevor sie etwas sagte.
Im selben Moment wurde ihr ganz schwer ums Herz. Lily kam ihr wirklich nahe. Sie begann, ihr zu vertrauen.
Sie tauschten ein sanftes Lächeln, Momente der Stille und sogar kurze Gespräche aus. Julia konnte nicht tatenlos zusehen, wenn etwas Gefährliches passierte. Jedes Mal, wenn Lilia eine Tablette nahm oder eine Spritze bekam, beobachtete Julia sie besorgt.
Sie begann, ein Notizbuch zu führen, in dem sie alles aufschrieb – ihren Namen, die Uhrzeit, ihre Reaktionen. So behielt sie die Kontrolle. Sie brauchte einen Plan, aber vor allem musste sie Lilia beschützen, selbst wenn das bedeutete, sich mächtigeren Menschen entgegenzustellen.
Die Tage vergingen, und Stück für Stück kam die Wahrheit ans Licht. Julia sammelte Notizen, Fotos und Fragen, doch sie wusste immer noch nicht, was sie tun sollte. Die Verantwortung wurde zu groß.
Was sie entdeckte, konnte sie nicht ignorieren. Lily war nicht einfach nur krank. Vielleicht wurde sie durch die Entscheidungen der Erwachsenen in ihrem Umfeld geschädigt.
Julia wollte nicht glauben, dass Roman es mit Absicht getan hatte, aber sie konnte ihm auch nicht ganz vertrauen. Sie wusste nicht, wer diese Entscheidungen getroffen hatte, aber sie waren falsch. Dieses Mädchen verdiente etwas Besseres.
Julia betrachtete Lilia mit anderen Augen. Sie war nicht mehr ein unglückliches Kind, sondern jemand, der im Stich gelassen worden war. Dieser Gedanke verletzte sie zutiefst. Die Bindung, die Julia zu Lilia empfand, wurde immer stärker.
Sie war nicht länger nur eine Angestellte; sie fühlte sich als Beschützerin, als Pflegerin. Und egal, wie schwierig der Weg war, sie war bereit, nach Antworten zu suchen. In diesem Haus lauerte etwas sehr Ernstes.
Julia wurde bei allem, was sie tat, vorsichtiger. Jeden Tag beobachtete sie Lilia genauer, aber mit stiller Aufmerksamkeit, darauf bedacht, sie nicht zu stören. Sie bemerkte kleine Details, wie Lilia auf verschiedene Stimmen reagierte, welche Gegenstände sie vermied, wenn sie entspannter wirkte.
Julia versuchte nicht, Lilia zu viele Fragen zu stellen oder sie zum Sprechen zu zwingen. Stattdessen blieb sie nah, immer ruhig und immer verfügbar. Julia verstand, dass Vertrauen nicht durch Worte, sondern durch Präsenz entsteht.
Und allmählich begann sich Lilia zu verändern. Sie begann, Julia direkt in die Augen zu sehen. Sie wich nicht mehr zurück, wenn Julia sich neben sie setzte.
Es waren kleine Momente, doch für Julia bedeuteten sie alles. Sie spürte, wie sich zwischen ihnen etwas veränderte. Es ging nicht mehr nur um die körperliche Fürsorge für Lilia, sondern um etwas Tieferes …
Julia wusste, dass sie dem Herzen der stillen Welt des Mädchens näher kam. Eines Nachmittags war es im Haus besonders still. Roman fuhr ihr entgegen, und die Krankenschwester ging ans Telefon.
Julia war mit Lilia im Wohnzimmer. Das Mädchen lag auf dem Sofa, in eine weiche Decke gehüllt. Julia saß neben ihr auf dem Boden.
Es gab keine Musik, keinen Lärm, nur Stille. Dann geschah etwas Unerwartetes. Lilia stand langsam auf und sah Julia an.
Diesmal blickte sie nicht ängstlich, sondern müde, als trüge sie etwas Schweres. Lilia kroch zu ihr hinauf, beugte sich sanft zu ihr hinunter und schlang ihre Arme um Julias Hals. Die Umarmung war leicht, aber aufrichtig.
Julia rührte sich zunächst nicht, überrascht von der plötzlichen Nähe. Dann umarmte sie sie von hinten und hielt sie vorsichtig fest. Dann flüsterte Lilia ganz leise, fast unhörbar: „Verlass mich nicht, Mama.“
Julia spürte, wie ihr Körper erstarrte. Ihre Augen füllten sich sofort mit Tränen. Sie zögerte, bevor sie etwas sagte.
Ihre Kehle schnürte sich zu, und ihr Herz hämmerte. Sie hielt Lilia einfach nur fest und blieb völlig still. Die Worte „Verlass mich nicht, Mama“ hallten in ihrem Kopf wider.
Sie spürte Lilias kleine Arme, die sie fest umschlossen. Es war keine gewöhnliche Umarmung, kein Fehler. Sie enthielt Angst und eine tiefe Sehnsucht, nicht allein zu sein.
Julia wusste nicht, ob Lilia sie wirklich so nennen wollte oder ob es nur eine Erinnerung aus der Vergangenheit war, die aufgetaucht war. Aber es war egal. Wichtig war, dass Lilia sie hereingelassen hatte.
Julia spürte es. Es war keine gewöhnliche Zärtlichkeit, sondern Vertrauen, ein Schrei nach Geborgenheit. Julia küsste Lilia sanft auf den Kopf und flüsterte: „Ich gehe nirgendwo hin.“
Und sie sprach aufrichtig. Die Tränen flossen weiter, aber sie wischte sie nicht weg. Zum ersten Mal sprach Lilia aus tiefstem Herzen.
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