Bei einem Familienessen zu Oma Galas Geburtstag in der Wohnung meines Bruders kam sein 14-jähriger Sohn Artem mit einem vollen Glas Cola auf mich zu und schüttete mir den Inhalt direkt in den Schoß. „Oma sagt, du solltest nicht hier sein“, rief er und sah mir dabei in die Augen. Am Tisch brach schallendes Gelächter aus. Ich wischte mir den Rock mit Servietten ab, zwang mich zu einem Lächeln und sagte nichts.
Noch am selben Abend zog ich die Bürgschaft für ihren Kreditrahmen bei der Bank zurück. Am nächsten Morgen wurde Mikhails Auto abgeschleppt, und um Punkt acht Uhr klingelte es unaufhörlich an der Tür. Galias Großmutters Geburtstage waren längst zu One-Woman-Shows geworden, mit ihrem Liebling Artem, der mehr Aufmerksamkeit auf sich zog als das Geburtstagskind und ihre fertigen Kuchen zusammen. Normalerweise tauchte ich auf, überreichte ihr ein Geschenk, unterhielt mich ein wenig und verschwand dann bei der ersten Gelegenheit.
Doch dieses Mal machte mich die telefonische Einladung etwas unruhig. „Swetotschka, ich bitte dich, komm“, sang meine Mutter süß. „Artemitschik hat gefragt, ob du kommen würdest.“ Das allein würde jeden vernünftigen Menschen dazu bringen, seine Krankheit zuzugeben.
Artem interessiert sich nur für mich, wenn er etwas vorhatte. Neulich bettelte er um einen Gaming-Stuhl für seinen Computer und überhäufte mich mit Komplimenten für meine Kochkünste. Und zwei Wochen später erzählte er Freunden im Hof, ich hätte versucht, Mutter zu werden, es aber nicht geschafft. Genauso hat er es ausgedrückt.
Ich erfuhr davon vom Sohn meines Cousins. Als ich mich bei Mischa beschwerte, tat er es ab: Das sei Pubertät, Grenzen auszutesten. Ich erwartete auch kein Mitleid, ging aber trotzdem hin, denn trotz allem kam ich immer wieder. In der Dreizimmerwohnung meines Bruders in Darnica brach ein Tumult aus.
Luftballons, zwei gekaufte Torten mit Sahnerosen, ein halbes Dutzend bereits geöffnete Geschenke. Artjom erzählte einem Mädchen, dass seine Großmutter ihm zu seinem sechszehnten Geburtstag ein Auto versprochen hatte. Mama lachte herzhaft, als sie gerade den Witz des Jahrhunderts gehörte. Niemand bemerkte meine Ankunft.
Ich musste laut husten und zwinkern, bevor mir jemand widerwillig einen leeren Stuhl zeigte. Mein Geschenk, Bernsteinperlen, die ich eine Stunde lang ausgesucht hatte, würde den ganzen Abend ungeöffnet in der Schachtel bleiben. Mama war zu sehr damit beschäftigt, allen zu erzählen, dass Artjoms Lehrer bestand, ihn in eine Sonderklasse für hochbegabte Kinder zu versetzen. Er ist nicht nur hochbegabt, er ist praktisch ein Genie, verstehen Sie?
Niemand fragte nach meinem Laden. Niemand fragte nach dem Wohltätigkeitsmarkt, den ich vor zwei Wochen organisiert hatte. Ich war ein Nichts, ein leerer Raum, auf den sie zeigen konnte, um sich an ihre eigene Überlegenheit zu erinnern. Ich saß zwischen zwei Fremden.
Einer von ihnen hatte in jeder Hand eine Dosis Obolon. Der andere nahm meine Gabel, ohne zu fragen, als er seine fallen ließ. Ich protestierte nicht einmal. Ich ließ ihn einfach gehen.
Jahrelang hatte ich vieles schleifen lassen. Dann geschah etwas, das alles veränderte. Artem stand mit einem vollen Glas Cola vom Tisch auf. Er kam mit der Miene eines Mannes auf mich zu, der sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmert.
Er sah mir direkt in die Augen. „Oma sagt, du gehörst nicht hierher.“ Und er schüttete mir das Getränk in den Schoß. Die kalte, süße Flüssigkeit lief mir den Rock hinunter.
Meine Füße waren sofort klebrig vom Zucker. Ich saß in der Pfütze, und alle lachten. Der ganze Tisch. Mama wandte sich an ihre Freundin und sagte so etwas wie: „Artemichik sagt einfach, was er denkt.“
Mischa klatschte sogar in die Hände. Ich wischte mir die Knie mit Servietten ab, und sie klatschten noch lauter. Ich lächelte ruhig. Keine Reaktion, kein Drama.
Ich saß da, als empfand ich keinerlei Demütigung. Nach allem, was ich durchgemacht hatte, nach Monaten im Krankenhaus, nach Hoffnung und Verzweiflung, nachdem ich meine schwache Tochter in den Armen gehalten hatte, erschien mir dieser kindische Streich mit der Cola so trivial, so unbedeutend. Und genau deshalb war er der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Denn obwohl sie meinen Schmerz kannten, betrachteten sie mich immer noch als Spottobjekt.
Doch etwas regte sich in mir. Es war kein Groll. Es war nicht einmal Wut. Es war kristallklare Klarheit …
Sie wollten mich nicht sehen. Sie wollten mich nie sehen. Und jetzt machten sie es so deutlich, dass selbst ich aufhören musste, so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Ich wartete noch fünf Minuten, entschuldigte mich, als wäre nichts passiert, stieg in mein Auto, fuhr nach Hause und klappte meinen Laptop auf.
Vor über einem Jahr flehte mich Mischa an, ihm einen Kreditrahmen für sein Einzelunternehmen zu gewähren. Er flehte und appellierte an mein Mitgefühl: Seine Mutter machte sich Sorgen, und sein Geschäft stand noch ganz am Anfang. Ich war noch immer vom Verlust meiner Tochter erschüttert; erst sechs Monate waren seit der Beerdigung vergangen, und ich war wie benebelt und stimmte mechanisch allem zu, nur um dem Alltag zu entfliehen. Ich unterschrieb Dokumente, ohne sie sorgfältig zu lesen, und wurde dann mit meiner Trauer allein gelassen. Ich hatte Macht, die ich nie nutzte.
Bis zu dieser Nacht. Ich zog die Garantie zurück und beantragte bei der Bank die Entfernung des Kontos aus der Kreditlinie. Die Konten wurden automatisch gesperrt. Mischa erfuhr davon erst heute Morgen, als er einen Anruf von der PrivatBank erhielt.
Um 7:45 Uhr stand ein Abschleppwagen vor ihrem Haus und holte den Camry ab, den sie drei Monate zuvor mit meiner Garantie geleast hatten. Um Punkt 8:00 Uhr klingelte es an der Tür. Ich öffnete und sah Mikhail, mit demselben Ausdruck gespielter Besorgnis, gemischt mit echter Panik, den ich bei jedem Fehltritt in seinem Erwachsenenleben gesehen hatte. Nur jetzt war da keine Mutter, die ihn beruhigte, kein Vater mit seinen Ersparnissen und keine mich, die so tat, als würde alles gutgehen.
Er sah am Boden zerstört aus. Er grüßte nicht einmal, als er hereinkam. „Das müssen Sie sofort in Ordnung bringen.“ Kein „Hallo“, kein Wort über die Cola von gestern.
Keine Spur davon, dass der ganze Tisch mich auslachte, als wäre ich ein Clown. Er schob mir einen Stapel Papiere zu. „Die Leitung ist blockiert. Die Bank sagt, der Bürge hat abgelehnt.“
Wenn ich keinen Ersatz finde, ist alles umsonst. Der Pavillon im Einkaufszentrum Ocean Plaza – ich kann mir die Miete nicht leisten. Meine Kreditkarten stecken in der Decke. Ich kann die Verkäufer nicht bezahlen.
„Mama‘s Krankenversicherung läuft bald ab und Artjom‘s Fußballschulgebühren sind in einer Woche fällig.“ Ich lehnte mich an den Türrahmen. Stille. Seine Stimme veränderte sich.
„Hast du das wegen eines dummen Witzes gemacht?“ „Genau darum geht es hier. Es geht nicht um die Cola. Es geht nicht darum, dass ich meine Tochter jahrelang geärgert habe.“
Kein Witz. Nur ein dummer Witz. Sie schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Fünf Minuten später explodierte sein Telefon mit Nachrichten.
Erst er, dann Olga, dann Mama. Jeder versuchte es mit seinen eigenen Tricks: Schuldgefühle, Verwirrung, Drohungen. Artjom schickte ein Video mit mehreren Instagram-Clips, in dem ein Blogger so tat, als würde er weinen. Kein Kommentar, nur das Video.
An diesem Abend erwartete mich eine neue Überraschung. Ich blieb lange im Laden. Ich kam auf den Parkplatz in einem Wohngebiet, die Schlüssel in der einen Hand und eine Einkaufstüte in der anderen. Das Auto war markiert.
Sie durchsuchten beide Seiten mit einem Schraubenschlüssel bis auf das blanke Metall. Der Seitenspiegel lag daneben. Die Heckscheibe war voller Risse, eingeschlagen von einem schweren Gegenstand. Zuerst stand ich einfach nur da und schaute mich auf dem leeren Parkplatz um.
Keine Menschenseele. Nur Stille und ein seltsames Gefühl, als wäre die Luft gefroren und wartete auf meine Reaktion. Ich habe Mischa nicht angerufen. Ich habe meine Mutter nicht angerufen.
Sie schrie nicht, sie weinte nicht, sie bekam keinen Wutanfall. Sie ging zurück in den Laden, schaltete die Überwachungskamera ein. Sie spulte zurück. Und da waren sie.
Artem und sein Freund. Sie blieben in ihrer Gegend stehen und lachten wie die Pferde. Einer filmte mit seinem Handy. Artem ging zum Auto, sprühte den „Loser“ rot an, posierte wie ein Rapper in einem Musikvideo und warf dann, um die Aufnahme zu vervollständigen, eine Topfpflanze von der Ladenveranda.
Ich habe nicht einmal mit der Wimper gezuckt. Ich rief Onkel Roman an, den einzigen vernünftigen Menschen in unserem Schlangenkreis. Er kam nach weniger als einer halben Stunde angerannt und sah sich schweigend das Video an. Als er fertig war, lehnte er sich zurück und rief die Polizei.
Keine Widerrede. Nicht ich habe angerufen, sondern er. Er blieb, während ich meine Aussage machte. Der Beamte war höflich, aber gründlich.
Dies ist nicht die erste Anzeige gegen Artem Kovalenko. Es gab bereits früher Vorfälle an der Schule, darunter Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch. Bisher kam er ungeschoren davon.
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