Die Morgendämmerung hüllte die Skyline von Kiew wie eine blaugrüne Militärtarnung ein. Selbst die Sterne hatten den Schlaf noch nicht aus den Augen gerieben, und die Stadt begann gerade zu erwachen. Im Herzen des Kommandos der ukrainischen Spezialkräfte, im Quartier des Kommandanten, herrschte reges Treiben. Das Treiben einer Mutter, die nicht geschlafen hatte.
Generaloberst Marina Schewtschenko war als die Eiserne Lady bekannt. Die drei Sterne auf ihren Schulterklappen spiegelten ihre volle Verantwortung als Kommandantin der Vorhut der ukrainischen Armee – der Spezialeinheiten – wider. Doch nun war sie keine Generalin mehr, sondern nur noch eine Mutter, die sich vorbereitete, ihren einzigen Sohn Dmitri willkommen zu heißen. Mit einem sanften Lächeln bewegten sie ihre Hände über den Tisch und bereiteten sorgfältig zubereitete Gerichte auf gewöhnlichen Feldtellern zu.
Pilz-Krucheniki, das Lieblingsgericht ihres Sohnes, verströmten einen besonders appetitanregenden Duft. Marina wählte sorgfältig das feinste Fleisch aus und ließ es in einer cremigen Sauce köcheln, bis es perfekt zart war. Ihre Krucheniki waren, wie eine Schlachtkarte, stets makellos. Daneben standen dünne, goldbraune Nalistniki (Pfannkuchen), die sie mit besonderer Liebe zubereitete.
Sie erinnerte sich noch genau an den Abend, bevor ihr Sohn zur Armee ging. Damals hatte ihr mit erhobenem Daumen gesagt: „Mama, was du willst, aber deine Nalistniki sind die leckersten der Welt.“ Ein warmes Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus, denn genau sechs Monate waren vergangen, seit ihr Sohn, den sie über alles liebte, seine militärische Ausbildung abgeschlossen hatte. Nach dem Abschluss des Ausbildungszentrums wurde ihm eine Einheit in der Nähe von Schytomyr zugeteilt. In all der Zeit hatte sie ihn nicht ein einziges Mal besuchen können, weil er darum gebeten hatte.
„Mama, ich möchte nicht, dass die ganze Einheit meinetwegen wütend ist. Lass mich als einfacher Soldat dienen, Dmitri Bondarenko.“ Marina wusste besser als jeder andere, wie schwierig der Dienst ihres Sohnes sein würde, wenn alle herausfänden, dass er der Sohn eines Kommandanten der Spezialeinheiten war. Sie verbarg ihren Groll, nickte, stimmte seinem erwachsenen Bitte zu und respektierte seine Entscheidung. Doch jedes Mal, wenn sie bei Videoanrufen sein immer dünner werdendes Gesicht sah, spürte sie, wie etwas in ihr kalt wurde.
Vor drei Tagen, nach einer Nacht im taktischen Training, hatte ihr Sohn sie angerufen. Seine Stimme lag ihr schwer auf dem Herzen. Seine übliche Fröhlichkeit war verschwunden, seine Stimme war heiser und erschöpft. Er sprach schnell, als würde er verfolgt, jedes Wort zitterte leicht. Selbst die Routinefrage „Mama, alles in Ordnung?“ klang hohl, wie eine Formalität.
Marina fragte besorgt: „Dima, was ist mit deiner Stimme? Bist du krank?“, doch er antwortete, alles sei in Ordnung. „Es war nur ein hartes Training“, erklärte er, obwohl ihre Mutter die Erschöpfung in seiner Stimme hören konnte. „Ich komme dieses Wochenende vorbei und bringe dir etwas Leckeres mit“, schlug sie vor, um ihn zu beruhigen. „Nein!“, hätte er beinahe geschrien, doch dann senkte er schnell die Stimme und überraschte sie.
Diese plötzliche Ablehnung traf Marina wie ein Messerstich und löste noch mehr Angst aus. „Komm nicht, auf keinen Fall“, sagte er schnell. „Mir geht es gut, wirklich, ich bin nur müde, und wir haben dieses Wochenende eine wichtige Trainingseinheit, deshalb fielen die Besuche sowieso aus.“ Die Worte ihres Sohnes klingen logisch, doch die Emotion dahinter verriet einen verzweifelten Versuch, etwas zu verbergen.
Marina hatte ein ungutes Gefühl, denn sie wusste nur zu gut, wie schwierig das Militärleben sein konnte. Sie war immer stolz darauf gewesen, ihren Sohn zu einem starken und gerechten Menschen erzogen zu haben. Sie verdrängte den Gedanken, dass er in Schwierigkeiten geraten könnte. Sie schloss die Essensbehälter und holte tief Luft. In der Stille vor der Morgendämmerung schien ihr Herzschlag ohrenbetäubend.
„Nein, das stimmt nicht, das hat er nur gesagt, weil er nach einer harten Trainingseinheit müde war“, flüsterte sie wie eine Beschwörungsformel. Doch ihr Mutterinstinkt, der über ihre rationalen Argumente lachte, löste einen Alarm aus, der ihr das Herz erstarren ließ. Es war wie die geschärften Sinne eines Spezialeinsatzkommandos, das im dichten Nebel die Anwesenheit eines unsichtbaren Feindes wahrnimmt. Heute musste sie ihren Sohn sehen, egal was passierte, um Frieden zu finden.
Nur als sie von ihm hörte und ihm in die Augen sah, dass alles in Ordnung sei, konnte sie diese quälende Angst loswerden. Als das bläuliche Licht der Morgendämmerung den Asphalt kaum berührte, machte sich Generaloberst Marina Schewtschenko auf den Weg zur Einheit ihres Sohnes. Sie fuhr nicht in einem Dienstwagen, sondern am Steuer ihres alten Slawuta. Sie wählte bewusst ihren Privatwagen, um nicht am Nummernschild erkannt zu werden, und kleidete sich bescheiden.
Statt ihrer sternenbesetzten Uniform trug sie einen schlichten grauen Pullover und Jeans, wie jede Mutter, die eilig zu ihrem Sohn eilt. Ihr ungeschminktes Gesicht drückte nur Sorge und Sehnsucht nach ihm aus. Am Tor der Einheit forderte sie ein junger Soldat am Kontrollpunkt vorschriftsmäßig auf, ihre Dokumente vorzuzeigen. Marina bemerkte, wie der Soldat kurz blinzelte, als er ihr den Pass mit Schewtschenkos Namen abnahm.
Marina Schewtschenko war kein ungewöhnlicher Name, und der Soldat hielt es offensichtlich für einen Zufall. Er fasste sich schnell wieder und fragte sie nach dem Grund ihres Besuchs. Dabei sprach er sie an, als wäre sie eine ganz normale Frau mittleren Alters. „Ich besuche den Gefreiten Dmitri Bondarenko“, antwortete sie ruhig. Der Soldat erklärte ihr etwas über Funk und begleitete sie, wie üblich, in den Besuchsraum.
Der saubere, aber irgendwie kalte, leblose Raum empfing sie mit Stille. Marina saß am Fenster und stellte vorsichtig ihre Essenstasche ab, ihr Herz klopfte. Gleich würde sich die Tür öffnen und ihr Sohn, nun ein echter Soldat, würde hereinkommen. Und dann, als ihr klar wurde, dass all ihre Sorgen vergebens waren, würde sie breit lächeln und ihn fest umarmen.
Doch das Warten zog sich erst zehn, dann zwanzig Minuten hin, und die Angst packte sie. Gerade als sie gehen wollte, um nachzusehen, was los war, öffnete sich die Tür zum Besucherraum, doch es war nicht ihr Sohn, der hereinkam. Ein untersetzter Sergeant mit gebräuntem Gesicht und einem gezwungenen Lächeln kam auf sie zu. Er trug einen „Nikolai Melnik“-Aufnäher auf der Brust und stellte sich als Gruppenführer ihres Sohnes vor.
„Sie sind die Mutter von Private Bondarenko, ich bin Sergeant Melnik, sein Gruppenführer“, sagte er. „Ja, und wo ist mein Sohn?“ Marinas Stimme nahm unwillkürlich einen stählernen Ton an. Sergeant Melnik zuckte zusammen und wandte den Blick ab, ängstlich zum Eingang des Zimmers gerichtet. Marina bemerkte, dass jemand die Szene beobachtete, drehte sich aber nicht um, da sie deutlich den Blick spürte.
„Die Sache ist die: Private Bondarenko ist seit gestern schwer an Grippe erkrankt und befindet sich isoliert auf der Sanitätsstation“, platzte es aus ihm heraus. „Wir haben derzeit eine Epidemie in unserer Einheit, und es tut uns sehr leid, dass wir sie nicht stoppen können.“ Der Sergeant sprach in einem Atemzug, als rezitiere er einen auswendig gelernten Text. Doch die Schweißperlen auf seiner Stirn und die unnatürlich angespannten Mundwinkel schrien Lügen.
Marinas Blick wurde messerscharf und sie fragte, wie krank er sei. „Isoliert? Dann gehe ich selbst in die Krankenstation“, verkündete sie. „Ich schaue ihn mir nur kurz an und gehe dann wieder; mehr brauche ich nicht.“ „Oh, das ist unmöglich, absolut unmöglich!“, schrie Sergeant Melnik beinahe und fuchtelte mit den Armen.
Seine Überreaktion schürte Marinas Misstrauen und machte sie noch misstrauischer. Er blickte ihr noch einmal hinterher, als suche er nach Bestätigung, und nahm all seinen Mut zusammen und fuhr fort: „Gemäß den Vorschriften der medizinischen Abteilung ist der Zutritt für Außenstehende strengstens verboten. Ich verstehe Ihre Gefühle, aber dies ist eine Quarantäneanordnung.“ „Ich kann nichts tun, aber Dima wird Medikamente bekommen, sich ausruhen und schnell wieder gesund werden. Ich werde ihn persönlich überwachen.“ In diesem Moment fiel Marinas scharfer Blick auf einen Mann am Ende des Korridors, über die Schulter des Sergeanten hinweg.
Es war Chief Warrant Officer Pavel Kovalenko, den Marina bei ihrer Inspektion des Ausbildungszentrums erblickt hatte. Ein Soldat mit listigem Blick, der stets die Stärkeren umschmeichelte und die Schwächeren grausam behandelte. Wie ein Regisseur stand er da und beobachtete Sergeant Melniks Auftritt. Melnik spürte ihren Blick und versuchte, Kovalenkos Sicht zu versperren, doch es war zu spät.
Der subtile Blickwechsel und die Spannung zwischen ihnen waren völlig anders als die typische Situation mit einem kalten Soldaten. Es lag ein deutlicher Hinweis darauf, dass eine unangenehme Wahrheit verborgen wurde. Marina drängte nicht weiter darauf, sondern stand mit einem milden Lächeln da. Sergeant Melnik war verwirrt über die plötzliche Veränderung in ihrem Verhalten und wusste nicht, was er denken sollte.
„Okay, das ist die Vorschrift der Einheit, wir können nichts tun“, sagte sie ruhig. „Bitte sagen Sie meinem Sohn, er soll seine Medikamente nehmen und sich ausruhen.“ „Könnten Sie ihm wenigstens etwas zu essen bringen?“, fragte sie und reichte ihm die Tasche. Melnik atmete erleichtert auf und nahm sie schnell entgegen. Er versprach, alles persönlich zu bringen.
„Ja, natürlich, keine Sorge, ich werde alles persönlich ausliefern, genau wie Sie es gewünscht haben.“ „Danke, Sergeant, ich denke, ich gehe dann“, sagte Marina. Ohne eine Spur von Bedauern drehte sie sich um und verließ den Raum. Hinter sich spürte sie die Erleichterung in den Gesichtern von Melnik und Kovalenko, als sie ging.
Doch als Marina die Station verließ, wurde ihr Gesicht eiskalt, und eiserne Entschlossenheit breitete sich in ihrem Herzen aus. Die Grippe, die Isolation, die dreisten Lügen – sie war sich sicher, dass ihrem Sohn etwas zugestoßen war. Sie versuchten verzweifelt, es zu verheimlichen, und sie war entschlossen, herauszufinden, was. Sie stieg in ihr Auto, startete aber nicht den Motor, sondern starrte nur in den Rückspiegel auf das fest verschlossene Stationstor.
Es war Zeit, die Wahrheit zu suchen – nicht als Mutter, sondern als Kommandantin einer Spezialeinheit. Nachdem Marina Schewtschenko die Einheit verlassen hatte, kehrte sie nicht nach Hause zurück, sondern fuhr etwa fünfhundert Meter weiter. Sie parkte auf einem leeren Parkplatz neben einem alten, heruntergekommenen Café namens „Am Kontrollpunkt“. Wie alle derartigen Lokale in der Nähe von Militärstützpunkten war es getränkt von Schweiß und Soldatengeschichten. Bis zum Mittagessen war es noch ein weiter Weg, aber Marina ging hinein und setzte sich an den hintersten Tisch, von wo aus sie freie Sicht auf die Straße hatte.
„Madam, wir haben noch geschlossen“, sagte eine ältere Dame, offensichtlich die Besitzerin, zu ihr. Marina holte ein paar Scheine aus ihrer Brieftasche und legte sie auf den Tisch. „Entschuldigen Sie, ich muss warten. Ich bleibe hier sitzen, bis es Abendessen gibt, dann bestelle ich.“ Schweigend nahm die Frau das Geld und ging in die Küche. Marina blieb allein.
Marina wartete ruhig, nippte an ihrem Wasser, und ihr Verstand arbeitete mit der kühlen Klarheit einer Kommandantin. Emotionen zu zeigen und Autorität zu demonstrieren, war Amateuren vorbehalten. Die Taktik einer echten Spezialeinheit bestand darin, still im Schatten zu warten, bis der Feind sich zeigte. Wie sie vorausgesagt hatte, verließen Offiziere und Unteroffiziere gegen Mittag die Einheit und machten sich auf den Weg zur Kantine.
Marina zog ihren Hut ins Gesicht und lauschte, während sie vorgab, die Speisekarte zu studieren, ihrem Gespräch. Es ging hauptsächlich um lockere Unterhaltungen und Wochenendpläne, nichts Interessantes. Plötzlich öffnete sich die Cafétür und ein bekanntes Gesicht trat ein – Chief Warrant Officer Kovalenko. Zwei weitere Warrant Officers folgten ihnen und setzten sich schräg gegenüber an einen Tisch.
Kovalenko hatte sich kaum hingesetzt, als er einen Wodka bestellte; er trank offensichtlich auch tagsüber gern. „Verdammt, ich bin heute Morgen fast grau geworden. Haben Sie den Blick in den Augen dieser Frau gesehen?“, murmelte Kovalenko und knabberte an einer Gurke. „Es ist, als ob sie mich durchschaut“, fügte er hinzu und leerte sein Glas. Der neben ihm sitzende Warrant Officer warf ein: „Nicht mal erwähnen; sie hat sogar denselben Nachnamen wie der Kommandant der Spezialeinheiten – Schewtschenko.“
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