Mein erstes Wort war nicht „Mama“, sondern „Merci“. Als ich drei war, wurde mein Vater nach Peking versetzt. Ich lernte Mandarin schneller sprechen, als ich Französisch lesen konnte.
Dann kam Kairo. Arabisch ist wie Musik, wenn man erst einmal gelernt hat, ihr zuzuhören. Dann – Berlin, Lemberg, Lissabon.
Während sie sprach, blitzten Bilder vor Alexeis Augen auf, die er sich nicht einmal vorstellen konnte. Ein kleines, dunkelhäutiges Mädchen, das im Hof am Brunnen mit chinesischen Kindern plauderte, mit ihrer Mutter arabische Märchen las oder mit ukrainischen Kindern Schneebälle warf. Ihre Kindheit war reicher und bunter als das Leben seiner millionenschweren Freunde, die mit Reisen in dieselben teuren Urlaubsorte prahlten.
Meine Eltern glaubten, der beste Weg, ein Land zu verstehen, sei, seine Sprache zu lernen. Nicht nur durch das Auswendiglernen der Wörter, sondern auch durch das Verstehen der Gedanken und Gefühle der Menschen. „Sprache ist die Seele einer Nation“, pflegte mein Vater zu sagen.
Er kaufte mir Bücher in der Sprache des Landes, in dem wir lebten. Er bat mich, mit den Einheimischen zu sprechen, mit den Händlern auf dem Markt, mit den Kindern auf dem Spielplatz. Für mich war es ein Spiel.
Das interessanteste Spiel der Welt. Ich hatte nicht nur ein Zuhause, sondern die ganze Welt. Sie verstummte, und in dieser Stille hörte Alexei einen unsäglichen Schmerz.
„Und … was ist dann passiert?“, fragte er flüsternd. „Warum bist du hier? Und warum …“ Er beendete den Satz nicht, aber sie verstand. Warum schrubbte sie, die Tochter von Diplomaten, auf seinen Partys den Boden?
Sofia senkte den Blick und starrte einen langen Moment auf ihre Hände. „Wir sind vor vier Jahren hierhergekommen. Mein Vater wurde zum Botschafter ernannt.“
Wir liebten diese Stadt. Sie schien so lebendig, so voller Möglichkeiten. Wir lebten fast ein Jahr hier.
Es war das glücklichste Jahr meines Lebens. Wir waren alle zusammen. Und es schien, als würde es für immer so bleiben.
Sie hielt für eine kalte Tasse Kaffee an. Dann fuhren sie zu einer Party im Landhaus einer wichtigen Person. Es regnete.
Sehr stark. Ein Lastwagen kam auf ihr Auto zu. Der Fahrer war betrunken.
Er hat überlebt, aber meine Eltern … nicht. Alexei lief es kalt den Rücken hinunter. Er wollte etwas sagen, ein paar Worte des Mitgefühls, aber er wusste, wie falsch und hohl sie klingen würden.
Er schwieg einfach. Und dieses Schweigen war die einzig richtige Antwort. „Wir waren vierzehn“, fuhr Sofia leise fort, nicht zu ihm, sondern zu sich selbst.
Meine Zwillingsschwester Ayana und ich. Wir haben niemanden mehr. Wir haben entfernte Verwandte in Afrika, aber wir kannten sie kaum.
Die Botschaft half bei der Organisation der Beerdigung. Wir erhielten eine kleine Versicherungsleistung. Allerdings wurden alle Konten und Ersparnisse meiner Eltern aufgrund rechtlicher Komplikationen eingefroren.
Wir blieben allein zurück, in einem fremden Land. In ihrer Stimme lag kein Selbstmitleid, nur eine trockene, hart erkämpfte Wahrheit. Sie wollten uns in ein Waisenhaus schicken, uns trennen.
Aber Ayana ließ uns nicht. Sie war immer die Älteste, obwohl sie zehn Minuten später geboren wurde. Sie sagte, wir könnten es schon alleine schaffen.
Sie fand einen Job, erst den einen, dann den anderen. Auch ich ging nach der Schule arbeiten. Als Putzfrau, dann als Tellerwäscherin.
Wer hat uns angeheuert? Wir haben ein kleines Zimmer in der Nachbarschaft gemietet, in der du mich kennengelernt hast. Wir mussten irgendwie überleben. Jetzt hat sich alles gefügt.
Jedes Detail dieses monströsen Mosaiks. Und Alexei wurde körperlich übel. Er erinnerte sich an seine demütigende Bemerkung über ihre Zukunft.
Er sagte das zu einem Mädchen, das etwas erlebt hatte, was er keinen Tag ertragen konnte. Scham brannte in ihm wie ein heißes Eisen. „Warum? Warum lernst du ständig Sprachen?“, fragte er und brach damit das Schweigen.
„Du hast so viele Sorgen.“ Zum ersten Mal in ihrem Gespräch sah sie ihm direkt in die Augen. Und in ihrem Blick sah er unglaubliche Stärke.
„Was bleibt mir sonst noch?“, fragte sie. „Das Geld ist weg. Der Status ist weg.“
Freunde aus meinem früheren Leben sind entweder verstorben oder haben uns vergessen. Ich habe nur das, was in mir steckt. Was meine Mama und mein Papa mir gegeben haben.
Wenn ich Französisch spreche, höre ich die Stimme meiner Mutter, die mir Gedichte vorliest. Wenn ich im Kopf chinesische Schriftzeichen verarbeite, sehe ich meinen Vater, wie er mir mit seiner großen, warmen Hand das Schreiben beibringt. Wenn ich Ukrainisch spreche, erinnere ich mich daran, wie wir alle zusammen in Lwiw Schneemänner gebaut haben.
Sprachen sind nicht nur Wörter. Sie sind meine Erinnerung. Sie sind meine Eltern.
Wenn ich sie vergesse, werde ich sie verraten. Ich werde sie ein zweites Mal verlieren. Sie wandte sich zum Fenster.
„Und außerdem… tue ich das für andere. Viele Menschen kommen in die Bibliothek, genauso verloren wie wir einst. Touristen, die sich nicht zurechtfinden.
Einwanderer, die wichtige Dokumente nicht ausfüllen können. Kinder, denen Geschichten in ihrer Muttersprache fehlen. Wenn ich ihnen helfe, habe ich das Gefühl, etwas richtig zu machen.
Etwas, worauf meine Eltern stolz wären. Ich kann mein Leben nicht ändern, aber ich kann das Leben eines anderen ein wenig einfacher machen. Stille senkte sich über das Café.
Das ältere Paar war gegangen. Auch der junge Mann mit der Zeitung war längst verschwunden. Die Kellnerin wischte die Theke ab und versuchte, nicht in ihre Richtung zu blicken.
Alexei Iwanowitsch, ein Mann, der alles kaufen konnte, saß vor der 14-jährigen Waise und fühlte sich völlig bankrott. All seine Millionen, seine Macht, sein Einfluss – all das war nichts im Vergleich zu ihrem Reichtum. Ihrem Reichtum an Geist, Erinnerung und Mitgefühl.
Er selbst war ein Einwanderer der zweiten Generation. Sein Großvater war mit einem einzigen Koffer in dieses Land gekommen und hatte eine kleine Werkstatt gegründet, aus der später ein Imperium wurde. Doch Alexei hatte das alles völlig vergessen.
Er vergaß seine Wurzeln, seine Nöte und was es bedeutete, bei Null anzufangen. Er wurde mit einem silbernen Löffel im Mund geboren und glaubte, dass es schon immer so gewesen sei und dass jeder einen haben sollte. Sofia lehrte ihn an einem Abend, was ihm das Leben in 40 Jahren nicht beigebracht hatte.
„Ich …“, begann er, doch wieder versagte ihm die Stimme. Er räusperte sich. „Ich kann helfen.“
Für Geld. Ich kann dir eine bessere Wohnung bezahlen. Beauftrage die besten Anwälte, um die Rechnungen deiner Eltern zu begleichen.
„Ich kann dir und deiner Schwester eine Ausbildung ermöglichen. An jeder Universität, die du willst.“ Er sprach schnell und leidenschaftlich, weil er auf irgendeine Weise für seine Sünden büßen und Vergebung erkaufen wollte.
Sofia schüttelte langsam den Kopf. „Wir brauchen Ihr Mitleid nicht, Herr Ivanovich. Und wir brauchen Ihr Geld nicht …“
Wir sind auf uns allein gestellt. Ja, es ist hart. Aber wir sind zusammen und wir sind frei.
„Wir schulden niemandem etwas.“ „Aber das ist keine Gnade!“, rief er aus. „Das … das ist Gerechtigkeit.“
Du musst nicht so leben. Du verdienst etwas Besseres …“ „Jeder verdient etwas Besseres“, antwortete sie ruhig. „Aber nicht jeder bekommt es.“
„Du kannst nicht jedem helfen.“ „Aber ich kann dir helfen.“ „Warum?“ Sie sah ihm wieder in die Augen.
„Um mein Gewissen zu beruhigen? Um mich wieder allmächtig zu fühlen?“ „Danke, aber nein. Das Einzige, was Sie für mich tun konnten, haben Sie bereits getan.“ „Was?“ Er verstand nicht.
Du hast zugehört. Du bist gekommen und hast zugehört. Die meisten Menschen in deiner Position wären einfach vorbeigegangen, aber du bist zurückgekommen.
Das reicht.“ Sie stand auf. „Ich muss gehen.
„Meine Schwester wird bestimmt verrückt vor Sorge. Danke für den Kaffee.“ Auch Alexei sprang auf.
„Lass mich dich mitnehmen. Es ist spät.“ Diesmal protestierte sie nicht, sondern nickte nur.
Sie stiegen aus. Sein Luxuswagen mit Chauffeur stand am Straßenrand und glänzte im Licht der Straßenlaternen wie ein außerirdisches Raumschiff zwischen den grauen, düsteren Gebäuden. Der Fahrer wollte ihm schnell die Tür öffnen, doch Alexei winkte ab und öffnete Sofias Hintertür selbst.
Sie fuhren in völliger Stille. Das Auto glitt lautlos durch die nächtlichen Straßen, weg aus dem Armenviertel und in Richtung Stadtzentrum. Doch Alexej hatte ein anderes Gefühl.
Dass sie die Welt der wahren Werte für ihren eigenen goldenen Käfig voller Falschheit und Leere verließ. Als sie vor ihrem Haus anhielten, einem alten, schäbigen Gebäude mit dunklen Fenstern, sagte Sofia: „Halten Sie hier bitte an.“ Sie drehte sich zu ihm um.
„Auf Wiedersehen, Herr Ivanovich.“ „Nein“, sagte er entschieden, „sagen Sie nicht auf Wiedersehen. Ich werde Sie finden, Sofia, nicht um Ihnen Geld zu geben, sondern um … zu studieren.“
Sie antwortete nicht. Sie stieg einfach aus dem Auto und verschwand im dunklen Flur. Der Wagen fuhr los.
Alexei blickte aus dem Fenster auf die zurückweichende Masse des Hauses, und etwas Erschreckendes, aber auch Heilsames ergriff seine Seele. Die Grundfesten seiner Welt zerbröckelten. Und in diesen Ruinen, in dieser ohrenbetäubenden Leere, wurde zum ersten Mal seit vielen Jahren ein winziger, kaum wahrnehmbarer Funke von Sinn geboren.
„Bist du verrückt, Alexej?“ Wladimir klang am Telefon eisig und erstaunt. „Mein Fahrer hat deinen Wagen gestern spät in der Nacht am Stadtrand gesehen. Im dreckigsten Teil der Stadt.“
„Was hast du denn da gemacht? Auf der Suche nach einem billigen Nervenkitzel?“ Alexej starrte schweigend aus dem Panoramafenster seines Büros. Die Stadt lag ihm zu Füßen, wie immer. Doch zum ersten Mal fühlte er sich nicht mehr, als wäre er ihr Herr.
Er sah keine ordentlichen Reihen von Wolkenkratzern, sondern unzählige Ameisenhaufen, von denen einer von dem Mädchen bewohnt wurde, das seine Welt auf den Kopf gestellt hatte. „Ich war beschäftigt, Vladimir“, antwortete er ruhig. „Beschäftigt?“ Ein Kichern hallte in der Stimme seines Freundes wider.
„Was machst du überhaupt in den Slums?“, fragte er und prüfte die Qualität des Asphalts. „Alexej, sei nicht dumm. In der ganzen Stadt herrscht bereits reges Treiben.“
Sie sagen, Sie seien von einer Putzfrau besessen. Von der an der Rezeption. Ist Ihnen überhaupt klar, wie die aussieht? „Mir ist egal, wie sie aussieht.“
Ein paar Sekunden lang herrschte Stille in der Leitung. Wladimir hatte offensichtlich nicht mit einer solchen Reaktion gerechnet. Er war es gewohnt, dass Alexei sich immer mehr um sein Image als um alles andere kümmerte.
„Hör zu“, Vladimirs Ton wurde ernster, fast bedrohlich. „Ich weiß, wir drehen alle ein bisschen durch. Midlife-Crisis, das ist alles.“
Aber es gibt eine Grenze, die Sie nicht überschreiten dürfen. Sie sind Alexei Ivanovich. Ihr Name ist eine Marke.
„Und jetzt machst du es mit Straßendreck schmutzig. Vielleicht ist dieser Dreck sauberer als die Welt, in der wir leben“, sagte Alexei leise. Wieder herrschte Schweigen, dieses Mal länger und schwerer.
„Ich verstehe“, sagte Vladimir schließlich. „Die Gerüchte stimmen also. Du warst wirklich dort.“
Komm heute Abend in den Club. Um acht. Wir müssen ernsthaft reden.
Alle werden da sein. „Ich werde darüber nachdenken.“ „Du wirst nicht darüber nachdenken, Alexei.
„Du kommst“, knurrte Wladimir und legte auf. Alexej legte langsam den Hörer auf. Er wusste, dass dies nicht nur eine Einladung war.
Es war eine Vorladung vor Gericht. Ein Gericht von Gleichgestellten, die sich ihm plötzlich überlegen fühlten. Er betrachtete sein Spiegelbild im dunklen Glas.
Ein müder Vierzigjähriger, der sein Leben lang ein Reich aus Glas und Beton aufgebaut hatte, ohne zu wissen, dass es sich wie ein Gefängnis anfühlte. Heute musste er entweder in seine Zelle zurückkehren oder die Wände aufsprengen. Pünktlich um acht Uhr abends betrat er die vertraute Lobby des Olimp Cigar Club.
Hier hatte sich seit Jahrzehnten nichts verändert. Die schwere Eichenvertäfelung, der Duft von teurem Tabak und Leder, das gedämpfte Licht und das respektvolle Schweigen der Bediensteten. Dies war seine Welt.
Die Welt, die er so verachtete und so sehr liebte. Seine Freunde saßen bereits an ihrem gewohnten Tisch in der hintersten Ecke. Vladimir, grauhaarig und gebieterisch, der wahre Patriarch ihres Kreises.
Pawel, der stets düstere Finanzier, für den Menschen nur Zahlen in Berichten waren. Und Grigori, der lächelnde Nachtschwärmer, dessen Leben aus einer endlosen Reihe von Partys und Skandalen bestand. „Unser verlorenes Schaf kommt“, rief Grigori theatralisch und hob sein Glas.
„Hast du beschlossen, zurück in den Stall zu gehen?“ Alexei saß schweigend auf einem leeren Stuhl. Ein Kellner erschien schweigend neben ihm, doch Alexei winkte ihn ab. „Willst du etwas trinken?“, fragte Paul lächelnd.
„Hast du Angst, über deine nächtlichen Eskapaden zu sprechen?“ „Lass uns zur Sache kommen“, sagte Alexei ruhig und sah Wladimir direkt an. „Du wolltest reden. Ich bin hier.“
Vladimir legte seine Zigarre weg und legte die Hände auf den Tisch. Sein Blick war schwer und forschend. „Alexej, wir kennen uns seit fast zwanzig Jahren.“
Gemeinsam haben wir diese Stadt aufgebaut. Wir sind ihre Säulen. Und eine der Säulen begann zu bröckeln.
„Ich möchte verstehen, warum.“ „Ich habe gerade etwas gesehen, was mir vorher nicht aufgefallen war“, antwortete Alexei. „Und was hast du gesehen?“, warf Grigori ein.
„Die Freuden der Armut? Die Romantik der Slums? Bring mich nicht zum Lachen. Dort gibt es nichts als Dreck, Ignoranz und Neid auf Menschen wie uns. Dort gibt es Menschen, Grigory, echte Menschen, mit echten Geschichten, mit echter Würde.“
mehr dazu auf der nächsten Seite